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Unter der Haut (German Edition)

Unter der Haut (German Edition)

Titel: Unter der Haut (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Doris Lessing
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an einen Katheter schrie, stellten sie mich mit Chloroform ruhig.
    Die Obsession meiner Mutter hatte schwerwiegende Ursachen. Zuerst frage ich mich, welches Bedürfnis einer Frau durch die »Sauberkeitserziehung« eines erst wenige Tage alten Säuglings befriedigt wird, den sie Tag für Tag stundenlang über das Töpfchen hält – oder halten lässt. Sobald das Kleine »sauber« ist, ist die Mutter ihre Aufgabe los. Als ich selber die Kontrolle über meine Blase gewann, erlebte ich das als ein Hochgefühl der Freiheit. Ich rief: »Nein, nein, ich gehe nicht auf den Topf, ich gehe auf das große Klo.« Und das hieß, ich lasse dich nicht mehr ein paarmal am Tag sehen, was ich produziert habe. Und »Baby« machte mir diesen Schritt in die Unabhängigkeit bald nach, hauptsächlich, weil ich ihm half, sich durchzusetzen. Aber wichtiger war, dass wir wirklich von Seuchen bedroht waren. Schließlich bekam die ganze Familie in der ersten Regenzeit gleich zweimal Malaria. Menschen starben am Schwarzwasserfieber, das damals als Folge von Malaria galt, und frühe Anzeichen dafür fand man im Urin. Bilharziose bedeutete während meiner ganzen Kindheit eine Gefahr: Eines der Symptome war wiederum Blut im Urin. Alle möglichen Krankheiten, die man heute nur mit ein paar Pillen bekämpft, hatten damals langes, vielfach auch tödliches Siechtum zur Folge. Meine Mutter stellte sich immer gleich das Schlimmste vor: Wieso kann ich das nicht begreifen, obwohl ich doch genauso bin?
    Wie muss sie sich gefürchtet haben, wenn sie zuschaute, wie ihre Kinder im gefährlichen Busch herumliefen, in dem es von Schlangen nur so wimmelte. »Wo habt ihr eure Schuhe? Der Staub ist voller Bazillen. Wo hast du deinen Hut? Du kriegst einen Sonnenstich. Habt ihr euer Chinin genommen? Wollt ihr wieder Malaria bekommen? Ihr hört nicht auf mich, aber das wird euch eines Tages leidtun.«
    Wir alle schluckten ja während der Regenzeit abends und morgens Chinin. Damals verabreichte man es in Form von knallrosa Tabletten, von denen einem die Ohren klangen.
    Im Krankensaal des Klosters lag ich in einem sauberen weißen Bett in einem hell erleuchteten Raum, wo die Glocken laut zum Angelusgebet läuteten, wo an der Wand nur eine kleine hübsche Statue der Jungfrau Maria hing und wo ich las. Und las. Und las. Wenn ein Symptom schlimmer war als üblich, ließ sich meine Mutter von meinem widerstrebenden Vater in die Stadt fahren und schickte, nachdem sie mich erst mal selbst untersucht hatte, nach dem Arzt. Besuche im Krankenhaus und Besuche vom Arzt, fast immer falscher Alarm, überschatteten meinen Schulalltag, und wenn ich sie auch fürchtete, so genoss ich andererseits das Drama, den aufgeregten Ton in der Stimme meiner Mutter, den Ernst der Bedrohung durch Tod, lange Krankenhausaufenthalte, Invalidität.
    Die Angst, dass mein Vater ernstlich krank werden könnte, war uns in diesen Jahren ständig präsent. Sein Holzbein spielte dabei eine geringe Rolle; ihm ging es häufig nicht gut, und wenn der Arzt aus Sinoia kam, hörte ich, wie meine Mutter und er leise miteinander sprachen: »Sie können nicht erwarten, dass ein Mann, der ein ganzes Jahr im Bett zugebracht hat, so ohne Weiteres darüber hinwegkommt.« Und: »Er hat eine Kriegsneurose gehabt, sagten Sie?«
    Mein Vater kämpfte außerordentlich tapfer gegen seine Behinderung an. Erst als ich Captain Livingstone sah, der sich nur auf glatten, ebenen Flächen zu Fuß fortbewegte, begriff ich, was mein Vater mit seinem Holzbein alles schaffte. Er fuhr im Förderkübel in Minenschächte ein, wobei sein Bein steif aus dem Kübel hervorragte und immer wieder gegen die Wand des Schachtes stieß, sodass der Kübel ins Kreiseln geriet und aus der Tiefe der Befehl zum Anhalten gegeben werden musste. Dann wurde die Winde gestoppt, der Kübel drehte sich langsamer, und er konnte weiter hinuntergelassen werden. Er schleppte sich über die gewaltigen Erdklumpen auf frisch gepflügten Feldern. Er fuhr mit dem alten Auto überallhin, durch die Steppe und den Busch und über freies, unebenes Gelände, abseits der Straßen. Später, als er vom Goldfieber gepackt wurde, lief er meilenweit mit Hammer und Wünschelruten durch die Gegend. Zumindest, solange es seine körperliche Verfassung noch zuließ.
    Als ich in einen der kleinen Jungen verliebt war, in welchen, weiß ich nicht mehr, brach ich, während ich verträumt an ihn dachte, einen kleinen Zweig an der Plattform im Baumhaus entzwei, bandagierte ihn, machte die

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