Unter der Haut (German Edition)
hatte ein Holzbein wie mein Vater – war aber damit weit weniger beweglich. Mr. McAuley hatte eine Stahlplatte auf dem Bauch, damit seine Eingeweide nicht herausfielen – sagte man. Im Haus der Murrays trauerte eine gramerfüllte Frau um ihren Mann und ihre vier Söhne, die im Krieg gefallen waren. Ein Sohn lebte noch als Ersatz für sie alle. Im Haus der Shattocks stand das Bild eines wonnigen kleinen Jungen, der, als ein Schiff im Krieg von einem Torpedo versenkt wurde, in den Sog geriet und ertrank. Manchmal, wenn sich das Gespräch erneut – zum tausendsten Mal – dem Krieg zuwandte, versuchte ich mich zu drücken und aus dem Zimmer zu schleichen, und wenn mein Vater mich erwischte, brüllte er: »So ist es recht, das geht dich nichts an. Ist ja bloß das Große Unaussprechliche, der Weltkrieg, mehr nicht!«
Hier drängt sich mir eine Frage auf. Vier Jahre auf der Klosterschule, aber auch vier Jahre mit Ferien, wochenlangen Ferien, die mir, wenn sie anfingen, vorkamen, als würden sie nie zu Ende gehen. Hunderte von Erlebnissen, schöne Zeiten, Picknicks, Familienausflüge, die Hunde, die Katzen, das Schmusen mit kleinen Kindern, die langen Tage, die ich mit meinem Bruder im Busch verbrachte, die Abende, an denen wir lange aufblieben, um die Sterne zu betrachten. Aber die düsteren Zeiten, die Kümmernisse wiegen schwerer als die schönen Zeiten. Wie kommt das?
»Gebt mir ein Kind vor seinem siebenten Jahr«, sagen die Jesuiten, heißt es. Die Kriegsgeschichten waren höchstwahrscheinlich das Erste, was ich überhaupt gehört habe. Deswegen hätte sich vielleicht gar nichts geändert, selbst wenn ich das Kloster mit seinen blutigen, gemarterten Menschen, seinen gemarterten, aber lächelnden Heiligen an allen Wänden und in allen Ecken nicht erlebt hätte. Angenommen, im Kloster hätte es nichts als heitere Bilder von Wäldern und Feldern und freundlichen Gesichtern gegeben, hätte sich auch dann das Kriegsgerede als stärker erwiesen? Oder haben wir angeborene Anlagen, die uns zu Kummer und kummervollen Erinnerungen neigen lassen, sodass sich tage- oder wochenlange schöne Zeiten als weniger einprägsam erweisen als Kummer und Leid? Diese Frage geht über die rein persönliche Bedeutung weit hinaus.
Ich war noch kein Jahr auf der Klosterschule, als ich in den Krankensaal floh. Zunächst war ich wirklich krank, und zwar hatte ich eine bakterielle Niereninfektion mit hohem Fieber, die damals B. Coli hieß. Danach meldete ich mich ständig mit unbestimmten Symptomen im Krankensaal und wurde ins Bett gesteckt. Meine Mutter sah das als Zeichen einer zarten Konstitution. Ich wusste, dass ich Heimweh hatte, merkte aber nicht, dass es im Grunde Schwester Antonia war, die den Krankensaal für mich attraktiv machte; sie war eine freundliche Frau, die mich und alle ihre Patientinnen liebevoll bemutterte. Diese eingebildeten Krankheiten hatten zwei Seiten. Einerseits befreite mich meine Anfälligkeit von der Verpflichtung, stets mit Leistungen glänzen zu müssen, so gut sein zu müssen, »wie ich nun mal war«, sodass das ständige Prahlen meiner Mutter vor den Nachbarn nachließ, die sich, wie ich wusste, darüber mokierten, sobald der Hörer aufgelegt oder unser Wagen abgefahren war. »Für wen hält die sich eigentlich?« Aber noch schlimmer als die Nachbarn war der direkt von meiner Mutter ausgehende Druck, die unerschöpfliche Energie, mit der sie darauf bestand, dass ich mein Bestes geben müsse; wenn ich in Mathematik siebzig erreichte, sagte sie, dass auch hundert zu schaffen wären, damit ich bald ein Stipendium bekommen und nach England auf die Schule könne. Andererseits lieferte mich das Kranksein ihr hilflos aus: Ärzte, Krankheit, Medikamente. Rückblickend ist mir, als schaute ich in die kalten Nebel, die den Geschichten meines Vaters zufolge manchmal über dem Niemandsland gelegen hatten, oder gar in Giftgaswolken. Das Kranksein durchdrang alles. Warum hörten die Ärzte nur stets auf meine Mutter? Erstens wohl, weil sie Anspruch darauf erhob, wie eine Kollegin behandelt zu werden. »Ich war Schwester am Royal Free Hospital in London.« Sie wusste immer besser Bescheid als die Sprechstundenhilfen. Ich musste ständig zu Tests und Untersuchungen bei Dr. Huggins, wobei man mir immer wieder Katheter einführte. Heute weiß ich, dass ich eine Blasenentzündung hatte, aber schon das kleinste Symptom wurde als Zeichen dafür gewertet, dass mir etwas Ernsthaftes fehlte. Da ich schon bei dem Gedanken
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