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Unter der Haut (German Edition)

Unter der Haut (German Edition)

Titel: Unter der Haut (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Doris Lessing
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mit Straußenfedern in Beige und einer passenden Federboa; einem Fuchskragen mit kleinen, schwarzen Glasperlenaugen, zwischen Nase und Schwanz zusammengehalten von einem vergoldeten Kettchen; in einem Schublädchen lagen die Orden meines Vaters; Glacéleder-, Leder- und Seidenhandschuhe, paarweise in Futteralen aus Waschseide verpackt, federleichte Seidenschals, wie geschaffen zum Verkleiden. Die Uniformhandschuhe meines Vaters. Packenweise alte Fotos, zum Schutz vor Silberfischchen in Ölpapier gewickelt. Aber Silberfischchen lassen sich nicht so leicht abschrecken, und die Fotos sahen aus wie Lochspitze. Insekten, Insekten – Insekten waren es auch, die am Ende das alte Haus zum Einsturz brachten.
    Die meisten Kinder verfallen irgendwann auf die Idee, dass sie eigentlich Waisenkinder sind, Findelkinder königlicher oder adliger Abstammung. Ich wollte keinen anderen Vater haben, be- schloss aber, dass in Wirklichkeit der persische Gärtner meine Mutter war. (Was hatte dieser persische Gärtner mir bedeutet, dass ich ihn mir, noch Jahre nachdem er die Wasserkanäle im Garten von Kermanschah in Ordnung gehalten hatte, zur Mutter erwählte?) Dass es unmöglich war, gestand ich mir halbwegs ein, denn ich kannte ja schließlich das Buch zur Geburtshilfe und Marie Stopes. Aber es musste unbedingt der persische Gärtner sein. Die Bekanntgabe der Identität meiner richtigen Mutter und ähnlich dramatischer Dinge erfolgte durch Tigger, den Spaßvogel, das fröhliche, verrückte, dicke und unbeholfene Tier – sodass es nur als typischer Witz von Tigger verstanden werden konnte, als ich verkündete, dass der persische Gärtner meine Mutter sei. Genauso erzählte Tigger im Spaß, dass die Nonnen nur ein Bonbon lutschen konnten, wenn sie sich flink umdrehten, um es sich heimlich in den Mund zu stecken, oder dass sie einem nicht erlaubten, die Turnhose zu wechseln, wenn man sie mit Suppe bekleckert hatte, und dass sie so einen Unsinn übers Höllenfeuer redeten.
    Es war auch Tigger, die weglief und sich hinterher darüber lustig machte.
    Aber sie waren nicht lustig, diese immer wiederkehrenden Anfälle von Wut und Hass auf meine Mutter, die mich zu dem Ent- schluss brachten, irgendwie nach Beira zu fliehen, auf ein Schiff und fort, weit, weit fort, nach – egal wohin. Es war nicht einfach, von der Farm zu entkommen, im Busch. Ich plante alles genau. In einen Kissenbezug packte ich Käse, eine Dose Corned Beef, Sardinen. Ich stibitzte meiner Mutter zehn Shilling aus der Handtasche. Und ich hatte noch Ersparnisse von Weihnachten und meinem Geburtstag. Harry wollte nicht weglaufen. Er verstand nicht, warum ich fortwollte. Aber meine Ruhe und Entschlossenheit überwanden schließlich seinen Widerstand. »Natürlich willst du mit«, versicherte ich ihm wieder und wieder. Es würde ganz einfach sein, kein Grund zur Angst. Er schniefte und weinte: »Aber ich will nicht!« »Doch, du willst«, beharrte ich. Gleich nachdem man uns ins Bett gesteckt hatte, würden wir den Hügel hinunterschleichen und auf der Piste nach Banket laufen. Damals waren wir diesen Weg noch nie gelaufen, wussten aber, dass die Afrikaner die Strecke immer zu Fuß gingen. Der Zug würde frühmorgens kommen, und dann … Der Haken war, dass ich zwar hoffte, dass er kommen würde, es jedoch nicht wusste. Das war der Punkt, an dem ich an jene diesige Grenze des Denkens stieß, wo sich die allermeisten kühnen Pläne wie Zucker auflösen. Ich wollte es so sehr, und darum musste es klappen. Sobald wir in Salisbury waren, würden wir … Aber da verdichtete sich der Dunst zu einem wallenden Nebel. Wir würden irgendwie an Geld kommen, uns in einen Zug nach Beira setzen und dann …
    Ich hielt meinen kleinen Bruder wach, indem ich ihm Geschichten erzählte, und dann schlichen wir uns aus dem Haus. Die Nachtluft ließ uns bereits frösteln. Nachdem wir an den hellen Fenstern, hinter denen unsere Eltern saßen und lasen, vorbeigekrochen waren, liefen wir im Dunkeln die Straße hinunter. Der Kissenbezug mit den losen Dosen schlug mir gegen die Beine. Harry weinte jetzt laut. Der Busch von damals war nicht der zivilisierte Busch von heute. Von allen Seiten hörten wir gefährliche Geräusche: Eulen und Ziegenmelker, aufgeschreckte Antilopen, die durchs Unterholz krachten, vor allem aber die geheimnisvollen Wesen aus unseren Märchen, die – aus den Buchseiten befreit – allenthalben herumtollten, in den Bäumen, hinter Gebüschen, stumm neben uns auf der Straße.

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