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Unter der Haut (German Edition)

Unter der Haut (German Edition)

Titel: Unter der Haut (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Doris Lessing
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lächelten wir uns zu, wenn die Rede darauf kam, »nach England heimzukehren«, wo das wahre Leben beginnen würde. Aber die Wirtschaftskrise verschlimmerte sich dort wie hier. Immer wieder tauchten entsetzlich dünne, verzweifelte junge weiße Männer zu Fuß auf den Farmen auf, um nach Arbeit zu fragen, und mit der Post kamen Briefe von Frauen, die flehentlich darum baten, die Kinderbetreuung übernehmen oder wenigstens eine Woche kommen zu dürfen, um alle Näharbeiten im Haus zu erledigen. All das war Ausdruck allertiefster Armut. Wie sollten wir mitten in der Krise nach England zurückkehren? Das war absurd, und wir wussten es. Deswegen konnte man sich trotzdem seinen Tagträumen hingeben. Sie träumten laut von der Heimat, und Harry und ich lächelten uns zu und flohen in den Busch.
    Armut bedeutet angeblich, dass man keine Kredite bekommt. Aber alle Farmer lebten von Darlehen der Land Bank. Wenn wir in Salisbury waren, fuhren wir zur Land Bank, wo wir Kinder stundenlang auf dem heißen Rücksitz herumrutschten, während die Eltern wieder einmal einen neuen Kredit aushandelten. Wir konnten nur weitermachen, weil die Kredite verlängert und nach jeder Ernte teilweise zurückgezahlt wurden, nur um kurz darauf wieder auf das frühere Niveau zu klettern. Weiße Farmer standen mehr noch als andere Siedler für die weiße Zivilisation, und sie mussten schon sehr schlechte Farmer sein, um keinen Kredit mehr zu bekommen. Nur wenige Siedler verfügten über Kapital. Mein Vater sagte, sein eigentliches Kapital seien der Krieg gewesen und sein verlorenes Bein. Die geringe Geldmenge, die er mitgebracht hatte, sei schnell verbraucht gewesen. Aber seiner Meinung nach würden »sie« es sich gründlich überlegen, ehe sie zuließen, dass ein Kriegsversehrter Bankrott machte.
    Armsein hieß, ständig bei Dardagan, dem Laden in Banket, anschreiben zu lassen. Hieß, dass mein Vater schimpfte, wenn meine Mutter etwas Unnötiges kaufte, wie zum Beispiel englische Marmelade. Hieß, dass unser Weihnachts»präsent« von Dardagan aus einer Dose altbackener Kekse und einer Flasche Sherry bestand, während reiche Farmer wie die Larters eine Flasche Whisky bekamen und große Schachteln Pralinen. Armsein hieß, dass meine Mutter all unsere Kleidung selber nähte, sogar die Buschhemden meines Vaters. Sie bestellten ihre Schuhe nach dem Katalog aus England, von Lilly & Skinners und Dolcis, und wir Kinder trugen
veldschoen.
Armsein hieß, dass wir unsere Arzneimittel (und der Haushalt verbrauchte Unmengen) aus einem Katalog kauften, in dem die Hausmittel wie Aspirin oder die damals üblichen Aufbaustoffe wie Phospherine oder Parish’s Chemical Food unter Zahlenkombinationen aufgeführt waren statt unter Markennamen, die zehnmal so teuer waren. Armsein – ja, es bestimmte das Klima, in dem man lebte, aber schon damals wusste ich, dass wir vergleichsweise gut dran waren. Als ich auf der Klosterschule war, hatte ich einen Tag mit meiner Freundin Mona verbringen dürfen, wozu meine Eltern mir widerwillig ihre Erlaubnis gaben, und ihr Vater, ein trauriger, lauter, schuldbewuss- ter Mann, hatte uns ständig draußen vor den Bars stehen gelassen, wo er immer noch einen trinken gegangen war. Beim Herauskommen sagte er: »Da seid ihr ja, meine Süßen«, und ließ uns stehen, nur um später wieder schwankend, angeheitert – und unglücklich – zu uns zurückzukehren. Das war echte Armut, und ich wusste es. Mona erklärte in einem fort, dass er seine Arbeit verloren habe, und sie wünschte, er würde nicht trinken, weil sie kein Geld mehr hätten, um Lebensmittel zu kaufen.
    Armut sprach auch aus dem rapiden Verfall des Hauses, wo das Klavier, die Perserteppiche, das kupferne Waschgeschirr, das silberne Besteck, die Ölgemälde bereits aus einem anderen Haus, einer anderen Welt zu stammen schienen.
    Anfang der dreißiger Jahre redete man auf den Veranden der Farmen ringsum über nichts anderes als die Wirtschaftskrise, die fallenden Preise, die schlechten Zeiten, die Pleiten. Doch kein einziger von den Farmern in unserer Nähe machte Bankrott. Die Enkel von einigen haben noch heute dort ihre Farmen, sie sitzen in denselben, allerdings inzwischen vergrößerten und aufwendig renovierten Häusern und sind als die »Hightech-Farmer« bekannt. Banket ist der »Hightech-Distrikt«.
    Unsere ganze Kindheit hindurch machten Harry und ich unsere Besuche im Distrikt zu Fuß oder mit dem Fahrrad. Die Matthews waren unsere nächsten Nachbarn, wir konnten

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