Unter der Haut (Hauptkommissar Leng ermittelt) (German Edition)
aber nicht traurig. Ich denke, dass ihre Beziehung lange zurückliegt.“
„Was heißt denn bestürzt, aber nicht traurig? Deine Rätsel sind mir manchmal zu kompliziert“, sagte Prado ungeduldig. „Vorhin hast du noch erklärt, Sprache dürfe nicht ausgrenzen, aber genau das machst du im Moment mit mir.“
Leng lachte. „Ich beziehe dich stets in meine Überlegungen mit ein. Manchmal lassen sich Dinge aber schwer erklären, gefühlsmäßige Eindrücke nicht in Worte fassen. Ich kann dir nur sagen, dass diese Bestürzung, dieses Entsetzen echt wirkte, und doch war es keine Trauer um ihn, sondern eher die Befürchtung, dass mit seinem Tod etwas endgültig ausgelöscht wird, eine Hoffnung wohlmöglich, auf die sie gebaut hatte.“
„Du meinst Hoffnung auf ein Wiedererwachen der alten Gefühle?“
„Das glaube ich nicht. Es hatte nichts mit ihren Erwartungen zu tun.“
„Mit wessen denn dann?“
„Ich kann es dir nicht sagen.“
„Und wie bist du zu deinen Einsichten gekommen?“ fragte Prado belustigt. „Standen sie in ihrem Gesicht geschrieben oder hast du die Tiefe ihrer Augen ausgelotet?“
„Dein Spott ist völlig unangebracht“, entgegnete Leng ruhig. „Auch du wirst schon was von Intuition gehört haben.“
Darauf wusste der Kommissar nichts zu erwidern. Bis zur Geburt seiner Tochter hätte er über jeden gelacht, der ihm weismachen wollte, Gedankenübertragung wäre möglich; aber seit Lena auf der Welt war, hatte er so viele erstaunliche Situationen erlebt, dass er seine vorgefasste Meinung änderte. An zwei Ereignisse würde er sich aber wohl immer erinnern, weil sie ihn tief berührt hatten.
Mit einem halben Jahr bekam die Kleine ihr eigenes Bett und schlief in einem separaten Zimmer, das per Babyphon mit dem Schlafzimmer der Eltern verbunden war. Eines Nachts wachte Prado schweißgebadet auf, weil er geträumt hatte, Lena würde ersticken. Er rannte in den Raum, in dem die Kleine lag und sah, wie sie nach Luft rang. In seiner Verzweifelung wusste er sich nicht anders zu helfen, als das Kind aus dem Bett zu reißen und ihr Brust und Schultern zu massieren. Wie durch ein Wunder half das auch.
Sie sollten nie in Erfahrung bringen, was wirklich passiert war. Die ärztlichen Untersuchungen verliefen allesamt positiv. Es gab keinen auffallenden Befund. Die Vermutungen bewegten sich von fast eingetretenem Kindstod, für den es bisher immer noch keine Erklärungen gibt bis zu einer nicht erkannten Infektion, die aber nicht nachgewiesen werden konnte.
Als Lena die erste Klasse des Gymnasiums besuchte, saß Prado eines Vormittags an seinem Schreibtisch und verspürte plötzlich ein starkes Verlangen, seine Tochter von der Schule abzuholen. Er gab dafür keinen Grund, aber er wusste, dass er es tun musste. Gemeinhin nahm sie den Bus, der sie fast vor der Haustür absetzte. Dieser Bus stieß aber an jenem Tag mit einem Lkw zusammen, der die Vorfahrt nicht beachtet hatte. Es waren zwar keine Toten zu beklagen, aber einige der Schüler trugen erhebliche Verletzungen davon.
Die beiden Fälle ließen si ch nur bedingt miteinander vergleichen. Im ersten übertrug sich die Angst des Kindes auf Prado, während er im zweiten ein Ereignis vorhergesehen hatte. Warum also sollte Leng nicht in der Lage sein, die emotionale Verfassung anderer Menschen wahrzunehmen, obwohl diese versuchten, sie zu verbergen?
Um 14.15 Uhr erschien endlich Dr. Irene Eitel an ihrem Tisch. Mit einem fast schüchternen Lächeln entschuldigte sie sich für die Verspätung. Unschlüssig darüber, neben welchem der beiden Kommissare sie Platz nehmen sollte, zog sie schließlich einen Stuhl vom Nachbartisch zu sich herüber und setzte sich an die Stirnseite.
„Ich war überrascht, als Sie mich anriefen, um mir zu sagen, Sie hätten noch einige Fragen. Natürlich bin ich gerne bereit, diese zu beantworten, damit dieses abscheuliche Verbrechen so schnell wie möglich aufgeklärt wird.“
Während sie sprach, schaute sie ausschließlich Leng an, der ihr vom Verhör in der Praxis vertrauter war. Offenbar hatte sie keine Ahnung, warum die Polizei noch einmal mit ihr sprechen wollte.
„Sie waren mit Dr. Burghausen befreundet?“ begann Leng vorsichtig.
Sie nickte. „Wir waren Kollegen, aber auch miteinander befreundet.“
„Welche Art von Beziehung unterhielten Sie denn zu Dr. Burghausen?“
„Du lieber Himmel. Was ist das denn für eine gestelzte Sprache?“ ging es Prado durch den Kopf. „Nur weil er eine attraktive Frau vor
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