Unter die Haut: Roman (German Edition)
Mal, seit er das Skalpell aus ihrer Hosentasche gefischt hatte, ihr Gesicht zu. »Es steht schon in Konflikt mit meinen moralischen Prinzipien, mit diesem verdammten Skalpell herumzulaufen.«
»Warum das denn, wenn du dich nur schützen willst?«
Sie sah ihm in die Augen. »Ich habe einen Eid geleistet, alles zu tun, um Leben zu retten, Vincent, und es war – und ist – mir ernst damit. Du weißt, welches der wichtigste Teil des hippokratischen Eids ist? Die Verpflichtung, niemandem Schaden zuzufügen.« Sie schüttelte den Kopf. »Mein Gott, es ist schon schlimm genug, dass ich es offenbar nicht schaffe, das blöde Ding zurück in meinen Arztkoffer zu stecken, wo es hingehört. Das Bedürfnis, es bei mir zu tragen, verursacht mir Magenschmerzen, denn lass uns doch mal den Tatsachen ins Auge sehen, ich trage es nur zu dem Zweck mit mir herum, jemanden zu verletzen. Andererseits will ich diesem Mann nicht schutzlos ausgeliefert sein, wie es Bess Polsen passiert ist. Aber eine Pistole …« Erneut schüttelte sie den Kopf. »Wenn es hart auf hart kommt, bin ich vielleicht fähig, das Skalpell zu benutzen. Ich möchte nicht darauf wetten, aber es könnte sein. Und vielleicht, aber nur vielleicht, könnte ich es hinterher mir selbst gegenüber auch rechtfertigen. Aber ich glaube, ich könnte mich niemals dazu überwinden, eine Pistole auf einen Menschen zu richten. Und wenn ich es tatsächlich täte, weiß ich nicht, ob ich später damit leben könnte.« Sie sah zu ihm hoch. »Das ergibt alles nicht viel Sinn, was?«
»Nicht besonders viel.« Er strich ihr ein paarmal schweigend über die Haare, bevor er ihren Kopf an seine Schulter drückte. Soweit es ihn betraf, hatte sie jedes Recht der Welt, sich zu verteidigen, wenn es hart auf hart kam. Für ihn war das keine Frage der Moral. Aber er betrachtete ihre Situation auch aus einer völlig anderen Perspektive – seiner eigenen. Er rieb seine Wange an ihrem Kopf, während er versuchte, es so zu sehen wie sie, und sagte schließlich: »Du meinst doch, dass du hin- und hergerissen bist zwischen deinem Schwur, Leben zu retten, und der Notwendigkeit, vielleicht dein eigenes auf Kosten des Lebens eines anderen Menschen zu retten.«
»Ja, genau.« Ivy entdeckte eine besonders weiche Stelle zwischen seiner Schulter und seinem Schlüsselbein und presste ihre Wange dagegen. Sie seufzte. »Und diese Vorstellung lähmt mich fast.«
Insgeheim war Ivy erstaunt, wie schnell sie sich an das Zusammenleben mit Vincent gewöhnte. Es stimmte, dass sie ihn praktisch von dem Moment an, als sie ihm zum ersten Mal begegnet war, begehrt hatte, und natürlich war ihr schon mehr als einmal der Verdacht gekommen, dass sie im Begriff stand, sich in ihn zu verlieben.
Na gut, dass sie sich in ihn verliebt hatte.
Womit sie nicht gerechnet hatte, war, dass sie ihn so sehr mögen würden.
Die meiste Zeit war es ausgesprochen unkompliziert, mit ihm zusammenzuleben, und das war wirklich eine Überraschung. Sie hatte zwar nur eine vage Vorstellung gehabt, aber sie hatte erwartet, dass sie entweder erbittert miteinander stritten oder sich mit solch heißer Leidenschaft liebten, dass die Bettlaken in Flammen aufgingen. Dazwischen, hatte sie gedacht, gab es nichts. Bisher hatten sie kein einziges Mal miteinander gestritten.
Nicht dass sie schon lange zusammenlebten – es war gerade mal eine Woche. Trotzdem hätte sie nie damit gerechnet, dass Vincent sie dazu drängen würde, sich aufs Sofa zu setzen und die Füße in seinen Schoß zu legen, damit er sie mit seinen kräftigen Händen massieren konnte, wenn er merkte, wie erschöpft sie nach einem langen Tag in der Notaufnahme war.
Sie hätte nie gedacht, dass er so offen über alles Mögliche mit ihr reden würde oder sie so zum Lachen bringen würde, dass sie Bauchschmerzen bekam, während sie gemeinsam kochten oder seine Wohnung aufräumten. Um ehrlich zu sein, hätte sie ihm überhaupt nicht viel Humor zugetraut. Anna Graham hatte ihr auf der Grillparty in der Küche zu erklären versucht, wie witzig Vincent sein konnte, aber Ivy hatte es ihr nicht geglaubt, weil sie diese Seite an ihm kaum erlebt hatte.
Bis jetzt.
Es war natürlich nicht alles eitel Sonnenschein. Gelegentlich zog er sich in sich selbst zurück und schloss sie bewusst aus, was sie sehr verletzte. Nie kam das Wort Liebe über seine Lippen. Sie dagegen musste sich ständig auf die Zunge beißen, um ihm nicht jedes Mal, wenn er sie berührte, eine Liebeserklärung zu machen.
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