Unter die Haut: Roman (German Edition)
Versagen schlimmer als das aller anderen wäre. Ich wusste ganz genau, worauf ich mich einlasse, als ich mich für die Notaufnahme entschieden habe statt einer netten kleinen Privatpraxis … Ich habe also keinen Grund, mich jetzt zu beklagen.«
»Jetzt reicht es aber«, sagte Babe mit plötzlicher Entschlossenheit. Sie trocknete sich die Hände an einem Küchentuch ab, warf es sich über die Schulter und baute sich vor Ivy auf. Sie hob die Hand und strich ihrer Nichte eine verirrte Haarsträhne aus dem bekümmert dreinblickenden Gesicht. »Warum bist du bloß immer so streng zu dir selbst, Kind?«, fragte sie. »Ja, du hättest dir höchstwahrscheinlich einigen Kummer ersparen können, wenn du eine eigene Praxis eröffnet hättest, und ja, du hast dich stattdessen freiwillig für die Notaufnahme entschieden. Aber wer sagt denn, dass du nicht das Recht hast, niedergeschlagen zu sein, wenn jemand stirbt? Es muss furchtbar sein, wenn einem jemand unter den Händen wegstirbt und man nichts dagegen tun kann.«
»Das ist es«, flüsterte Ivy.
»Ich kann nur versuchen, es mir vorzustellen.« Babe legte ihrer Nichte die Hände auf die Schultern und schüttelte sie sanft. »Aber du musst etwas nachsichtiger mit dir sein, Liebes. Hast du mir nicht erst neulich erzählt, dass das Leben jedes zweiten Patienten an einem seidenen Faden hängt, wenn er eingeliefert wird? Du musst dich damit abfinden, dass du nicht mehr tun kannst, als dein Bestes zu geben. Du kannst sie nicht alle retten, Ivy Jayne. Ich weiß, dass du das gern tätest, aber es geht nicht. Und der Teufel soll mich holen, wenn ich zulasse, dass du dich vorzeitig ins Grab bringst, weil du dauernd darüber nachgrübelst, dass du dieses oder jenes hättest tun sollen …«
»Aber vielleicht hätte ich wirklich -«
Babe zog sie in ihre Arme. »Ach, Liebes«, seufzte sie. »Was soll ich bloß mit dir machen?« Dann holte sie entschlossen Luft. Während sie Ivy sanft über die Haare strich, sagte sie ebenso sachlich wie eindringlich: »In deinem Herzen, Ivy Jayne Pennington, weißt du ganz genau, dass du alles Menschenmögliche getan hast, um das Leben dieser bedauernswerten jungen Frau zu retten. Also hör auf, dich selbst zu quälen.« Sie beugte sich etwas zurück, um ihrer Nichte ins Gesicht zu sehen. »Geh da raus und gönn dir ein paar Drinks und ein paar nette Stunden mit deinen Kollegen, Ivy. Jetzt ist Zeit, dir neue Freunde zu suchen – also fang damit an. Das ist wesentlich sinnvoller, als dich wegen etwas, an dem du sowieso nichts mehr ändern kannst, vor lauter Selbstvorwürfen zu zerfleischen.«
Ivy zwang sich zu einem Lächeln. »Du hast Recht. Ich glaube, ich habe es einfach nur gebraucht, dass mich mal jemand in die Arme nimmt«, gestand sie.
»Und dir was Warmes zu essen hinstellt«, ergänzte Babe, ihr Lächeln erwidernd, während sie einen Schritt zurücktrat und Ivy noch einmal die Haare zurückstrich. »Wenn du erst mal etwas im Magen hast, fühlst du dich gleich viel besser.«
Zu Ivys Überraschung war es so. Und wenn Babes Essen ihre Lebensgeister auch nicht vollständig wecken konnte, munterte es sie doch so weit auf, dass sie sich darüber freuen konnte, wie viel Spaß ihren Kollegen das Spektakel machte, das die gediegene Cocktaillounge ihrer Tante und ihres Onkels jede Nacht in ein musikalisches Tollhaus verwandelte.
Sehr zum Vergnügen der Leute aus der Notaufnahme begannen die Stammgäste, unmittelbar nachdem die leeren Teller abgetragen worden waren, mit ihren Gesangseinlagen. Binnen kürzester Zeit erlagen Ivys Kollegen der Stimmung, die im Mack’N Babe’s herrschte. Bei jedem Lied, das sie kannten, sangen sie mit, und bei denen, die sie nicht kannten, feuerten sie den jeweiligen Interpreten begeistert an. Es war Ivy unmöglich, sich von so viel Ausgelassenheit ringsum nicht anstecken zu lassen.
So lange Ivy sich erinnern konnte, hatte man in der Bar ihrer Tante und ihres Onkel gesungen. Es hieß, dass es tatsächlich den A-capella-Darbietungen zu verdanken war, dass die Lounge nicht bald nach der Eröffnung ihre Pforten wieder schließen musste.
Der familieninternen Gerüchteküche zufolge hatten Mack und Babe große Schwierigkeiten gehabt, das Geschäft zum Laufen zu bringen. Nach der Eröffnung der Bar am Pioneer Square, kurz vor der Renovierung in den frühen Siebzigern, die sie zu einer begehrten Adresse machte, hatten sie sich von Monat zu Monat mühsam über Wasser gehalten. Babes Brüder waren so oft wie möglich mit
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