Unter Korsaren verschollen
Augen, ist die gleiche Nase, ein fast gleicher Mund, wie sie.; Luigi Parvisi hatte. Der da vor ihm steht, er gleicht in vielem dem jungen Herrn von damals.
Benedetto preßt die Fäuste auf die Augen, ganz fest, daß die mageren Finger sich durch die Lider zu bohren scheinen. Das Bild bleibt, wird im Gegenteil schärfer.
»Lauf langsam auf das Haus zu, immer vor mir her, Omar«, keucht er.
Dem Jungen ist das Gebaren des Alten unheimlich, aber er befolgt die Bitte.
Der andere vergißt zu folgen. Genau so wiegte sich Luigi Parvisi in den Hüften, als er so alt wie dieser Omar war.
Grausame Tücke des Schicksals, ihm einen Menschen über den Weg zu führen, der sein Innerstes so aufwühlt.
Ein Araber in der Kleidung – in der Gestalt, im Aussehen, in den Bewegungen aber wie der tote Herr. Wenn dieser junge Bursche ein Italiener wäre, er könnte der Sohn Luigis sein. Er könnte, müßte Livio sein.
»Liv…!« Den Anfang des Namens Livio schreit er dem Jungen nach, den Rest verschluckt er. Ein Gedanke ist ihm durch den Kopf geschossen, der erst noch genau überdacht werden muß, ehe man »Livio« unbedenklich aussprechen darf.
Omar hat vernommen, daß ihm Benedetto etwas nach-rief, nicht aber was. An diesem köstlichen Sonnentag zwitschern Scharen von Vögeln ihre Loblieder hinauf in das unendliche Blau. Ihre spitzen Triller haben das
»Li…« übertönt, aufgesaugt. »Was ist?« fragt er zurück.
»Nichts, mein Sohn, nichts. Ich erfreue mich an dem herrlichen Tag. Wer so lustig und unbeschwert singen und jubilieren könnte wie die kleinen gefiederten Sänger! Ich versuchte es soeben. Ein Krächzen, ein dummes
,Li’ nur gelang, besser, mißlang mir. Komm, lassen wir uns hier nieder.«
Dabei wählt er bereits für sich den Platz, der ihm die Sonne im Rücken sichert. Auf Omar fällt sie voll.
»Du wolltest mir heute von dir erzählen«, wird er erinnert. »Ich weiß. Laß mir noch einige Augenblicke, um mein Gedächtnis aufzufrischen.«
Eine Ausrede. Benedetto will Zeit gewinnen, den Jungen noch weiter betrachten und dem Gedanken nachgehen, der ihm gekommen war.
Wenn Omar der Sohn Luigis ist, dann hat ihn ein teufli-scher Plan vom Europäer zum Araber werden lassen.
Daß es voll und ganz gelungen ist, hat die gestrige Unterhaltung bewiesen. Omar bekundete kein Mitleid mit den Europäern, hatte keine beschönigenden Worte für seine Kampfeslust. Er ist Korsar wie jeder andere. Alles europäische Denken – es war ja auch noch gering, als man den kleinen Livio in die neuen Verhältnisse preßte –
ist ausgelöscht. Aber Livio wurde doch mit der Mutter von den anderen getrennt. Woher hat man in Algier ge-wußt, wer sich an Bord der »Astra« befinden werde?
Das ist jetzt nicht festzustellen, es war aber bekannt.
Man hat mit Überlegung gehandelt, vielleicht schon im voraus alles bedacht, was mit dem Kind werden soll.
Vorausgesetzt, daß diese Überlegungen stimmen, wie würde Omar darauf reagieren, wenn man ihm eröffnete, daß er gar kein Eingeborener, sondern ein Fremder, ein Italiener ist?
Ich muß ihn langsam vorbereiten, ihn umerziehen, beschließt der Italiener. Auch für die Gedankenwelt eines Arabers muß doch der Mensch zu etwas Wertvollem werden können, so daß er eines Tages einsehen wird, wie schändlich und verwerflich das Treiben der Korsaren ist. Benedetto verhehlt sich nicht, daß es keine leichte Sache werden wird. Aber wir haben ja Zeit, viel, viel Zeit.
»Ich wurde«, beginnt er nun seinen Bericht, »mit einem italienischen Schiff gekapert. Du weißt selbst, hast es sogar mit ausgeführt, wie man mit den unglücklichen gefangenen Seeleuten und Reisenden umspringt. Wir waren nichts anderes als Ware und oft Gegenstand der grausamen Lust der Wächter. Man schlug uns, erniedrig-te uns, behandelte uns schlimmer als Tiere.
Als wir in Sidi Feruch vom Schiff geholt wurden – ich glaube, es ist einmalig in der Geschichte Algeriens, daß man uns nicht bis in die Stadt schleppte –, waren viele von uns schwer verwundet. Ich selbst war
durch Krankheit geschwächt. Wie mir die anderen Un-glücklichen von der ,Astra’ erzählt hatten, war mein Herr im Kampf gefallen und seine Leiche über Bord geworfen worden. Die junge Herrin, deren Geist verwirrt war, und den siebenjährigen Buben« – Benedetto beobachtet Omar scharf, aber nichts; im Benehmen des anderen deutet darauf hin, daß ihn die Erwähnung der Frau und des Kindes irgendwie berührt – »sonderte man schon vor dem Ausschiffen
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