Unter Trümmern
Brunner, als sie keine Anstalten machte, sie zu nehmen. „Brauchst du die Medizin für deinen Sohn nicht mehr?“
Langsam hob sie ihren Arm, öffnete ihre Hand und ließ sich die Schachteln auf die Handfläche legen.
„Du kannst noch mehr davon haben.“
Sie sah ihn verständnislos an.
„Der Offizier ist so begeistert von deinen Lewwerknepp, dass er möchte, dass du für ihn kochst.“
Dorle war sprachlos.
„Ich finde, das ist ein großes Kompliment. Ich hoffe doch, dass du das nicht ablehnen wirst …“
„Aber Rolf … ich kann doch nicht …“
Mit einer entschiedenen Geste seiner Hand befahl er ihr den Mund zu halten.
„Es ist zum Besten deines Sohnes. Du sprichst doch Französisch, wenn ich mich richtig erinnere. Du wirst für den französischen Offizier arbeiten und dort die Augen und Ohren offen halten und mir alles sagen, was wichtig sein könnte. Es muss dort aber niemand wissen, dass du ihre Sprache sprichst. Dafür bekommst du von mir regelmäßig die Medikamente für deinen Sohn. Wenn du tust, was ich von dir verlange! Vielleicht werde ich auch Sonderaufträge für dich haben. Kann sein, dass ich auch einen Arzt ausfindig mache, der nach ihm schaut. Eine Frau, mit deinen Talenten.“ Er sah sie lange an. „Der arme Peter“, sagte er schließlich, schlug betroffen seine Augen für einen Moment zu. „Gott hab ihn selig“.
Wie betäubt legte Dorle den Weg von Brunners Haus zu ihrem Häuschen am Feldrand zurück. Das Gewicht des leeren Topfes spürte sie nicht, ebenso wenig den kalten Wind.
Seltsam und beunruhigend empfand sie die Stille, als sie den Schlüssel ins Schloss des schmalen Tores schob. Sie stellte den Topf auf den Boden und eilte, ohne den Eingang zu schließen, über den Hof ins Haus. Rolf war weder in der Küche noch im Wohnzimmer oder im Bett. Schließlich ging sie, mit Tränen in den Augen, zurück in den Hof. Erst jetzt fiel ihr auf, dass die niedrige, zweiflügelige Tür, die in den Keller führte, halb offen stand. Aus der Küche nahm sie eine Kerze und stieg langsam und mit angehaltenem Atem die Stufen hinab. Das Erste, was sie sah, war ein Fuß, der einen Meter über dem Boden neben einer umgeworfenen Kiste baumelte.
6. – 18. März 1946
III
Paul Koch hatte die vergangenen Tage, während einige Mainzer ihre ersten Versuche mit der Fastnacht in einer zerstörten und hungernden Stadt machten, in seiner kleinen Wohnung in der Zahlbach verbracht, mit viel Zeit zum Nachdenken. Die Grübelei machte ihn schier verrückt. Immer wieder die Frage, ob es richtig gewesen war, Beatrice und den kleinen Émile in Toulouse zu verlassen und nach Deutschland zu gehen, nach Mainz, wo sie seinen Vater, den Kommunisten, 1933 verhaftet hatten. Der nach einer Odyssee durch verschiedene Gefängnisse bei einem Fluchtversuch erschossen worden war. Hieß es. Koch glaubte nichts davon. Den Leichnam hatte er nie zu sehen bekommen. Wahrscheinlich hatten sie ihn verscharrt wie ein Tier. Zum Glück hatte seine Mutter das nicht mehr erleben müssen. Sie war schon 1929 gestorben, die Grippe.
Ihn, der bei der Polizei arbeitete, wollten sie zwingen, ein Papier zu unterschreiben, dass er sich von seinem Vater distanzierte. Da war er gegangen. Er ließ niemanden zurück. Von den Kollegen und den Freunden, oder denen, die er einmal als solche gesehen hatte, waren viele in die Partei eingetreten oder hatten sich mit den Umständen arrangiert. Von seinem Vater und dessen Schicksal wollten sie nichts wissen. Paul war nach Paris gegangen, weil er leidlich Französisch sprach und weil er mit der Stadt an der Seine angenehme Erinnerungen verband, seitdem er nach der Schulzeit dort zwei Wochen verbracht und seine ersten erotischen Abenteuer erlebt hatte. Die Stadt schien ihm damals in ihrer Freizügigkeit und Lässigkeit genau das Gegenteil von Deutschland und von Mainz zu sein. Im Frühjahr 1934 hatte er seine zwei Koffer gepackt und war abgereist, ohne Rückfahrschein, hatte sich ein Zimmer gemietet und sich das Nötigste zum Leben in einer Schreinerei, die im Hinterhof seines kleinen Zimmers lag, verdient. Ein halbes Jahr später hatte er Arbeit am Empfang eines Hotels gefunden, in dem viele Ausländer, die meisten wie er auf der Flucht vor den Nazis, untergekommen waren. Kommunisten, Republikaner, Sozialdemokraten, Christen, Anarchisten. Hier hatte er Reinhold kennen gelernt, den Anarchisten aus Wuppertal, der ihm von Spanien erzählte.
Jetzt war er wieder in Deutschland, das von den Nazis und ihrem
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