Unter Trümmern
los?“, wollte Reuber wissen, nachdem er einen Schluck von seinem dampfenden Kaffeeersatz genommen und sein Gesicht verzogen hatte.
„Wo soll ich anfangen?“, begann Koch und klang resigniert. „Siggi ist eigentlich ein ganz patenter Kerl, aber ich bin mir nicht sicher, ob er nicht von Arnheim den Auftrag hat mich zu bespitzeln.“
Er sah zu Reuber, der zeigte keine Reaktion.
„Und Arnheim selbst legt mir ständig Steine in den Weg, behindert die Ermittlungen, beschwichtigt und macht“, hier zögerte Koch einen Moment, „ständig Anspielungen auf meine Vergangenheit und unterstellt mir Ressentiments.“
Er legte seinem Kollegen das, was ihn ärgerte, genauer dar. Warum er, der sonst so misstrauisch war und auch Reuber erst kurz kannte, das tat, er wusste es nicht. Wahrscheinlich war das Bedürfnis, sich den Frust von der Seele zu sprechen, größer als jede Vorsicht und jedes Misstrauen.
Reuber hörte ihm geduldig zu. Zwischendurch ging er die Becher mit neuem Ersatzkaffee füllen.
„Was soll ich Ihnen sagen, Koch“, begann er, nachdem der andere seine Ausführungen beendet hatte. „Ich denke, dass Sie eine Grundsatzentscheidung treffen müssen: Bleiben und solche Situationen aushalten oder Sie müssen tatsächlich gehen. Eine Menge Leute, die vor einem Jahr noch linientreue Parteigänger waren, sind noch immer oder wieder in Amt und Würden. Es geht auch gar nicht anders, Koch. Oder was wollen Sie mit denen machen? Exekutieren? In den Knast oder ins Exil schicken?“
Er machte eine Pause und sprach, als Koch keine Anstalten zu einer Erwiderung machte, weiter.
„Das wären die Methoden, die Sie ablehnen, Koch, deshalb sind Sie doch gegangen, deshalb haben Sie gekämpft. Wollen Sie das Feld jetzt denen überlassen? Haben Sie dafür gekämpft? Der Kampf jetzt ist wahrscheinlich viel schwieriger, weil er anders geführt werden muss, weil diese Leute viel, verdammt viel, zu verlieren haben. Aber Menschen wie Sie, Koch, die integer sind, die Mut bewiesen haben, die braucht dieses Land jetzt dringender als Lebensmittel und Kohle. Verstehen Sie das?“
Reuber war mit jedem Satz lauter geworden und hielt erschrocken inne, als er das bemerkte. Zwei Kollegen, die auf der anderen Seite des großen Raumes saßen, blickten sofort wieder weg.
Koch ließ das Gehörte sacken. Natürlich hatte Reuber Recht und es schmeichelte ihm mehr, als er zugeben würde, was der über seine Integrität gesagt hatte. Dennoch fühlte er sich in manchen Momenten überfordert, in diesem Umfeld zu leben.
„Kommen Sie“, forderte Reuber den Kollegen, der noch immer stumm auf seinem Stuhl vor dem mittlerweile kalten Kaffeeersatz saß, auf. „Wir machen Feierabend. Ich weiß, wo wir noch etwas zu trinken bekommen.“
Kochs erster Gedanke am nächsten Morgen war der Entschluss, in den nächsten Tagen nichts zu trinken. Als sein Wecker ihn um halb sieben aus dem Schlaf riss, verfluchte er sich und seinen Kollegen. Sie hatten kein Ende gefunden und Koch hatte dem ihm eigentlich fremden Mann sein Leben erzählt, mit viel zu vielen Einzelheiten. Wie er 1937 zusammen mit Reinhold, dem Anarchisten aus Paris, nach Spanien gegangen war und auf Seiten der Internationalen Brigaden gegen Francos Truppen gekämpft hatte. Wie Reinhold von Stalin treuen Kommunisten hinterrücks erschossen worden war und für ihn eine Welt zusammenbrach. Zum Glück hatte das sein Vater nicht mehr erleben müssen und dennoch drängte sich ihm die Frage auf, was sein Vater gemacht hätte. Wäre auch er dem Willen der Partei gefolgt und hätte andere Kämpfer gegen den Faschismus umgebracht, nur weil die nicht die gleiche Religion hatten wie er? Koch haderte mit sich und der Welt, blieb aber in Spanien, kämpfte weiter und gehörte in Barcelona zu den letzten Verteidigern der Stadt, bevor Francos Truppen sie in den ersten Wochen des Jahres 1939 eroberten und ihre Blutbäder unter den Besiegten begannen. Auf der Flucht wurde er, der die zwei Jahre in Spanien ohne jede Verletzung überstanden hatte, durch einen Schuss am linken Oberschenkel verletzt, als er einen Kameraden aus der Gewalt der Faschisten befreite und vor Folter und Tod rettete.
Mit diesem Mann, Raymond, floh er nach Frankreich, wo sie in der Nähe von Toulouse unterkamen. Raymonds Eltern hatten dort einen kleinen Bauernhof. Nachdem er seine Verletzung auskuriert hatte, half er auf dem Feld und im Stall. Er lernte Raymonds Schwester, Beatrice, kennen. Sie beide verliebten sich ineinander und bekamen
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