Unter Trümmern
seinen Augen ein willfähriges Werkzeug des Kapitals und der Mächtigen.
Hätte er damals seinem Vater helfen, ihn retten können, wenn er diese Loyalitätsbekundung abgegeben hätte? Nach jahrelangem Nachdenken über solche Fragen war er mittlerweile so weit, dass er sich keine Vorwürfe mehr machte; er sein Leben leben musste und fest daran glaubte, als Polizist mehr für Gerechtigkeit tun zu können als in einer Partei. Koch spazierte weiter, bog in die Bastion Martin ab, da, wo sein Elternhaus gestanden hatte. Nur wenige Gebäude hatten den Bomben standgehalten, von vielen waren gerade noch die Fassaden übrig geblieben. Er blieb stehen. Da drüben war das Haus, in dem Robert gewohnt hatte, ein Freund, mit dem er während der Volksschulzeit viel zusammen war, ein Raufbold und später Mädchenschwarm. Was aus ihm geworden war? Gefallen? Hingerichtet? Ein Krüppel? Er war froh es nicht zu wissen.
Von dem Haus, in dem er mit seinen Eltern gelebt hatte, waren das Erdgeschoss und der erste Stock erhalten, der Rest einfach weg, zerbröselt in den Schutt, der auf der Straße lag und in dem jetzt zwei Kinder spielten.
Er sah ihnen einen Moment zu, wandte sich in Richtung Schlesisches Viertel, das er mit schnellen Schritten durchquerte, um den Zahlbacher Steig hinabzugehen.
Bei Georg Bresson war es ruhig. Koch schloss seine Tür auf, schnitt sich eine Scheibe Brot von dem trockenen Laib ab, der noch in seiner Küche lag, und setzte sich auf seinen durchgesessenen Stuhl, der schon in der Wohnung gestanden hatte, als er eingezogen war.
Es war zwar milder geworden, aber er musste dennoch seinen Mantel anbehalten. Von dem Stapel mit Büchern, den er vor einer Wand angehäuft hatte, nahm er Heinrich Manns „Die Jugend des Henri Quatre“, den der Schriftsteller im französischen Exil geschrieben hatte. Bresson hatte ihm das Buch schon vor längerer Zeit in die Hand gedrückt und ihm wärmstens empfohlen. „Ein Beispiel für gelebte Versöhnung“, hatte der Nachbar hinzugefügt. „Ist in den heutigen Zeiten nicht verkehrt zu lesen und drüber nachzudenken.“ Koch hatte sich allerdings von dessen Umfang und dem Umstand, dass es ein historischer Roman war, bislang abschrecken lassen.
An diesem Abend wollte er das Wagnis eingehen.
Aber es blieb bei diesem Vorsatz, denn immer wieder schweiften Kochs Gedanken ab und hinderten ihn am konzentrierten Lesen. Zuerst war es sein Gespräch mit Reuber und was der ihm über Arnheim und dessen so genannte Projektion erzählt hatte. Selbst wenn alles so war, wie Reuber es schilderte, warum musste er das ausbaden und vor allem, warum sollte ein Verbrecher wie Brunner davon profitieren? Seine Gedanken schweiften in die Ferne. Er dachte an Beatrice und Émile, die in dem kleinen Haus auf dem Hof ihrer Eltern bei Toulouse lebten. Raymond hatte ihm versprochen, auf die beiden aufzupassen. Zuerst war er zornig gewesen, als Koch ihm mitgeteilt hatte, dass er nach Deutschland zurückgehe. Raymond, der für ihn so etwas wie ein Bruder geworden war, bei der Flucht vor Francos Truppen und durch das gemeinsame Leben und Arbeiten in Südfrankreich, konnte es nicht verstehen. Dass eine Beziehung kaputt gehen kann, das gehörte für ihn, den französischen Lebemann, zum Leben dazu. Raymond hatte nicht geheiratet, weil er von sich sagte, dass er nicht treu sein und schon gar nicht dem Charme einer schönen Frau widerstehen könne. Er zollte Koch sogar Respekt, dass der es so lange mit seiner Schwester ausgehalten hatte. Er selbst hatte ein gutes Verhältnis zu ihr, aber er sei nur der Bruder, sagte er, nicht ihr Mann, und seine Schwester alles andere als einfach. Eine Frau mit eigenem Kopf, die am Ende auch noch mit einem Deutschen zusammengelebt und einen gemeinsamen Sohn hatte. Auch wenn der Mann gegen Hitler gekämpft und in der Resistance sein Leben riskiert hatte, so war er für viele Franzosen doch ein Deutscher und somit ein Rest an Misstrauen geblieben.
Koch hatte sich mehr als einmal gefragt, ob Beatrice mit ihm aus Dankbarkeit zusammen war, weil er ihren Bruder gerettet und nach Frankreich in Sicherheit gebracht hatte. Bis zur Landung der Alliierten in Südfrankreich im August ’44 und der anschließenden Befreiung des Landes war ihr Leben ein täglicher Ausnahmezustand: immer in Gefahr, den Deutschen in die Hände zu fallen, verraten und entdeckt zu werden.
Das war mit einem Mal zu Ende, Normalität trat in ihr Leben. Koch war nun fast täglich auf dem Hof, in Beatrices Nähe und er
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