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Unter Trümmern

Unter Trümmern

Titel: Unter Trümmern Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: J Heimbach
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sich wieder hinter seinen Schreibtisch gesetzt hatte, kühl den Satz. Er schob ihr ein Blatt Papier zu, das er aus der Akte genommen hatte und legte einen Bleistift darauf.
    Sie nickte.
    „Er kam nicht mehr klar“, erklärte sie mit leiser Stimme. „Hat … ein Bein verloren.“ Fast hätte sie „auch“ gesagt. Reuter zeigte keine Reaktion.
    „Du musst das ausfüllen“, erklärte Reuter.
    Dorle sah den Mann noch einmal kurz an, bevor sie das Papier zu sich heranzog. Es schmerzte sie, dass sich Reuter nicht für die Umstände von Rolfs Tod interessierte.
    Als sie fertig war, reichte sie ihm das Blatt. Er warf einen kurzen Blick darauf, schrieb selbst etwas auf den unteren Teil, faltete das Blatt oberhalb dieser Stelle, strich mit dem Daumen über die Falz und trennte das schmale Stück ab, das er Dorle zurückgab.
    „Für den Pfarrer“, sagte er in einem Ton, der wie eine Verabschiedung klang. Dorle stand schnell auf und verließ mit einem knappen Gruß das Zimmer.
    Sie hatte das Gefühl, den Tod gesehen zu haben.
    Auf der Straße musste sie an Hans-Joachim denken. Wahrscheinlich war es Franz Reuter gewesen, der sie an ihren Mann erinnerte. Sie schlug den Weg zu ihrem Haus ein, aber mit jedem Schritt fühlte sie sich unwohler, weil sie Hans-Joachim immer wieder aus ihren Gedanken verbannte.
    Um sich zu beruhigen, machte sie sich auf den Weg in die Stadt. Es war noch früh, sie hatte genügend Zeit. Am Bahnhof gab es eine große Wand, an der durchreisende Kriegsheimkehrer Notizen von Kameraden aus der Stadt hinterließen. Vielleicht hatte Hans-Joachim einem Mitgefangenen eine solche Nachricht mitgegeben.
    Andere drängten sich schon um das Haltestellenschild an der Breiten Straße, darunter viele Frauen, die, so nahm Dorle an, ihr Schicksal teilten. Einige von ihnen trugen große Rucksäcke und hielten in beiden Händen Taschen. Sie waren auf dem Weg zum Tauschen. Die einen hatten Lebensmittel und konnten den Preis bestimmen, die anderen mussten mit ansehen, wie ihr Besitz weit unter Wert in fremden Händen verschwand.
    Sie fand in der vollen Bahn einen Platz am Fenster und sah hinaus, verglich die Straßen und Häuser mit den Bildern, die sie von vor dem Krieg in Erinnerung hatte, in dem normalen Leben, mit Mann, Sohn und Haus. Jetzt hatte sie nur noch das Haus und das war leer. Sie erschrak nicht einmal mehr über diese Gedanken, die klangen, als gäbe es keinen Hans-Joachim mehr. Dennoch fuhr sie weiter in die Stadt. Vielleicht muss ich mein Gewissen beruhigen, sagte sie sich, und fragte sich, was der Herr da oben darüber dachte.
    „Lassen Sie mich da sitzen. Ich bin kriegsversehrt!“
    Erschrocken wandte Dorle ihren Blick von dem Fenster.
    Neben ihr stand ein großer, kräftiger Mann, dem ein Arm fehlte und der eine Augenklappe trug.
    „Geht’s nicht ein bisschen schneller!“, zischte er zwischen seinen braunen Zähnen hervor.
    „Lassen Sie die Frau doch! Sie sind ein kräftiger Kerl!“ Eine andere Frau hatte sich eingemischt. Sofort erhoben sich weitere Stimmen. Die einen ergriffen Partei für den Mann, den der Krieg sein Augenlicht und einen Arm gekostet hatte, die anderen forderten Anerkennung für die Frauen, die den Trümmerladen im Moment überhaupt am Laufen hielten.
    Dorle war das zu viel. Sie stand auf und drängte sich zwischen den Fahrgästen nach vorne. Hinter ihr wurde bis zum Bismarckplatz hitzig weiter gestritten, wo viele Leute ausstiegen und es endlich ruhiger wurde.
    Dorle versuchte nicht den Gesprächen zu lauschen, aber das wollte ihr nicht gelingen. Nicht alle Unterhaltungen drehten sich ums Essen, die Sorge um die Angehörigen oder die Ausgebombten, die jetzt in den unzerstörten Wohnorten wie Gonsenheim untergebracht waren und die Bewohner oft auf eine harte Bewährungsprobe stellten. Dorle hörte auch anderes. Wie die Geschichte der Parfümerie Simon aus Süddeutschland, die in Mainz und Umgebung riesige Warenbestände gehortet hatte, ohne dies der Militärregierung gemeldet zu haben. Oder von der Absicht der französischen Besatzungsmacht, ein Bundesland Rheinland-Pfalz auszurufen. Und dass auf dem Brand im Mai ein Traberrennen stattfinden solle. Sie gewann den Eindruck, dass etwas passierte, dass es wieder voran ging. Wenn auch nicht in ihrem Leben, aber, so hoffte sie unbewusst, vielleicht würde das irgendwann bis zu ihr durchschlagen.
    Jetzt aber versetzte ihr der Anblick der zerstörten Häuser einen tiefen Stich. Hier in der Neustadt waren viele Bomben eingeschlagen,

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