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Unter Trümmern

Unter Trümmern

Titel: Unter Trümmern Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: J Heimbach
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viele Menschen hatten ihre Wohnungen und ihr Hab und Gut verloren. Viele auch ihr Leben. Hier in der Stadt zeigten sich die Zerstörungen der Fliegerangriffe wie offene Wunden.
    Dorle wandte ihren Blick ab. Sie wollte sich ihr kleines Stimmungshoch nicht vermiesen lassen.
    Nach kurzer, rumpelnder Fahrt hielt die Straßenbahn vor dem Bahnhof. Dorle wartete, bis die anderen ausgestiegen waren und trat auf den Vorplatz. Seltsam fand sie das Bild, das sich ihr bot. Das arg beschädigte Bahnhofsgebäude auf dem von der Sonne beschienenen Platz. Wie das schaurig-romantische Motiv eines Künstlers, überlegte Dorle. Als sie sich von dem Anblick löste, wäre sie beinahe über einen Mann gefallen, der vor ihr auf einem Brett vorbeirollte. Er hatte beide Beine verloren und bewegte sich geschickt mit seinen Händen fort.
    „Entschuldigen Sie bitte!“, rief Dorle ihm zu. Der Mann sah sich nicht einmal nach ihr um.
    Sie folgte dem Strom der Menschen in das Innere des Gebäudes. Dorthin, wo an einer großen Tafel die Zettel mit den Nachrichten hingen und wo sie hoffte, eine Nachricht von Hans-Joachim zu finden.
    Bald würden sie Silberne Hochzeit feiern. Wie eine Ewigkeit schien Dorle in diesem Moment ihr Leben an der Seite von Hans-Joachim. Mit neunzehn hatte sie ihn kennen gelernt, beim Fastnachtsumzug durch Gonsenheim. Er hatte sie angesprochen, weil sie eine Narrenkappe ihres verstorbenen Vaters trug. Und Hans-Joachim sammelte ja diese Mützen. Wehmut überfiel sie bei dem Gedanken. Keine einzige von ihnen besaß sie mehr, alle waren draufgegangen für die Medikamente, die sie beim Brunner eingetauscht hatte, um Rolfs Leiden zu lindern. Ihr schien das alles in diesem Moment wie Bilder aus einer weit zurückliegenden Welt.
    Vor der Tafel mit den kleinen Zetteln standen die Frauen in mehreren Reihen hintereinander. Nur wenige Männer befanden sich unter ihnen. Immer wieder rief eine von ihnen einen Namen, drehte sich um, wartete auf eine Reaktion, um sich gleich wieder der Wand zuzuwenden. Nur selten war ein Freudenschrei zu hören. Klaus Reiting aus Oppenheim grüßt seine Frau aus einem Lager in Nowosibirsk. Tausende Kilometer entfernt, in den Weiten Sibiriens. Die Hoffnung schwand von einem zum anderen Augenblick. Arnfried Müller aus der Umbach, in Workuta. Grubenbau und Kohleförderung. Mörderisches System. Zu oft waren die Geschichten der wenigen Rückkehrer erzählt worden, von der Härte und den Qualen in den Lagern, von den Krankheiten und Seuchen, von Entkräftung und Hunger. Und trotzdem gingen diese Frauen immer wieder zum Bahnhof, hofften auf eine Nachricht, hofften, dass ihr Mann, Vater, Bruder oder Sohn zu den wenigen Glücklichen gehörten, die die Strapazen überlebten und den weiten Weg nach Westen schafften.
    Dorle drängte sich langsam, aber bestimmt nach vorne und arbeitete sich von links nach rechts an der Wand entlang, versuchte jeden Zettel zu lesen. Immer wieder wurde sie von der Seite oder von hinten gestoßen und verlor den Überblick in dem Meer von Nachrichten, die sich überlappten, schief hingen, eingerissen waren, aufgeweicht und verschmiert, manche einfach unleserlich, die Schrift zerfranst, als ob dem Verfasser die Kraft zum Schreiben gefehlt hätte. Dabei rief sie ständig „Hans-Joachim Becker aus Gonsenheim“, aber weil das so viele der Frauen gleichzeitig taten und in dem hohen Gebäude die vielen Stimmen der Menschen sich in einer undurchdringlichen Lärmwolke auflösten, erreichte ihr Rufen meist nur die unmittelbar neben ihr Stehenden.
    Nach zwei Stunden war Dorle müde. Und resigniert. Warum ging sie überhaupt hierhin? Würde Hans-Joachim wiederkommen? Und wenn, war er noch derselbe wie vorher? Vielleicht, überlegte sie, wäre das auch gut. Ein anderer Hans-Joachim. Vielleicht wäre mit dem ein neues Leben möglich?
    Ihr schlechtes Gewissen über diese Gedanken zwang Dorle, die Schmerzen und die Müdigkeit zu ignorieren und noch länger auszuharren. Gab sie zu schnell auf? Dachte sie nur an sich? Sie konnte doch auf den Bahnsteig gehen und dort die ankommenden Männer befragen. Die Hoffnung stirbt zuletzt. Oder liebte sie ihren Mann nicht mehr so, wie sie ihn lieben müsste? War es ein Zeichen mangelnder Liebe, dass sie so schnell aufgab?
    Plötzlich übertönten laute Stimmen die Geräusche um sie herum. Ein Streit. Sie brauchte gar nicht dem Schall der Stimmen zu folgen, um den Ort der Auseinandersetzung zu erkennen. Die Menschen drängten dorthin, eine Menschentraube zeigte

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