Unter Trümmern
die erste Frau.
„Nein, nein“, widersprach der Mann im Brustton der Überzeugung. „Die Polizei glaubt, dass es jemand war, der sich auskannte. Auf dem Gerberhof.“
„Einer aus dem Ort. Was hat der Krieg nur aus den Menschen gemacht?“, sagte die zweite Frau. „Ich glaube, dass …“, wollte sie fortfahren, aber das von einem lauten Quietschen begleitete Anhalten der Straßenbahn machte es Dorle unmöglich, den Rest des Satzes zu verstehen.
Schnell verließ sie mit den anderen den Wagen. Sie sah sich um. Wo waren die drei? Sie wollte hören, ob sie noch etwas wussten, aber sie konnte sie nicht entdecken.
Sie war zu früh ausgestiegen, auf die nächste Bahn wollte sie aber nicht warten. Also lief sie los, an den Gleisen entlang bis zur Breiten Straße. Wenn die Polizei davon ausging, dass es jemand aus dem Ort war, überlegte sie auf dem Nachhauseweg, und der sich auskannte, dann würden sie sicher bald herausbekommen, dass der tote Peter und ihr Rolf vor dem Krieg miteinander befreundet waren. Im nächsten Moment verwarf sie diesen Gedanken wieder. Das war schon so viele Jahre her. Und Rolf konnte mit seiner Behinderung nicht den weiten Weg gehen und sie war eine Frau. Warum sollte sie …?
Überzeugt war sie von ihren eigenen Überlegungen nicht, als sie am Nachmittag ihr Haus erreichte.
Franzi stand am Herd und rührte in einem Topf.
„Wo warst du denn?“, fragte sie. „Hat es so lange auf dem Amt gedauert?“
Statt einer Antwort kramte Dorle den abgerissenen Zettel aus ihrer Tasche und legte ihn auf den Tisch.
„Wann ist die Beerdigung?“, fragte sie. Jetzt, wo es entschieden war, wo sie sich durchgerungen hatte, Rolfs Tod zu melden, wollte sie, dass ihr Sohn so schnell wie möglich ein ordentliches Begräbnis erhielt.
„Der Pfarrer war nicht da“, sagte Franzi. „Ich werde es morgen wieder versuchen, damit wir Rolf bald beerdigen können.“
Dorle spürte einen Druck in ihrer Brust, den sie kaum aushalten konnte. Ohne ein Wort zu sagen, verließ sie die Küche, ging in den Hof und stieg die Kellertreppe hinab zu Rolf, der noch immer wie in den letzten Wochen auf der Holzkiste aufgebahrt lag. Sie kniete sich neben ihn und betete. Die Tränen schossen ihr dabei aus den Augen.
Am nächsten Morgen kam Franzi schon vor acht und musste zu ihrer Überraschung Dorle wecken, die sonst immer sehr früh auf den Beinen war. In dieser Nacht hatte sie zum ersten Mal seit langer Zeit durchgeschlafen, einen tiefen und, wie ihr, nachdem sie die Augen geöffnet hatte, schien, traumlosen Schlaf.
Franzi brühte aus Kräutern einen Tee auf und reichte Dorle eine Tasse, nachdem die aufgestanden war und sich angezogen hatte.
Die Freundin nahm den Zettel von Reuter mit der Bestätigung von Rolfs Tod und wollte schon aus dem Haus gehen, da stand Dorle auf, eilte ihr nach, hielt sie fest und umarmte die Freundin.
„Danke, danke!“, stammelte sie. Mehr bekam sie nicht heraus.
„Ist schon gut“, sagte Franzi, hielt Dorle noch ein paar Sekunden an sich gedrückt, dann gewann ihr Pragmatismus wieder die Oberhand und sie löste sich von der Freundin.
„Bis später!“, rief sie ihr über die Schulter zu und verließ das Haus.
Dorle setzte sich an den Küchentisch und trank in kleinen Schlucken ihre zweite Tasse Tee, die Franzi ihr noch eingeschenkt hatte. Was würde sie ohne diese Frau machen?
Als sie die Tasse geleert hatte, lüftete sie im Hof ihre Decke. Ein Klopfen am Tor ließ sie innehalten. Sie legte die Decke zur Seite, öffnete das kleine Tor und starrte in Neuberts Gesicht. Er betrachtete sie mit einem Blick, der lüstern und hinterhältig zugleich war.
„Ich habe gehört, dass der Rolf tot ist“, sagte er ohne Begrüßung.
Woher wusste der Mann das schon? Hatte er tatsächlich, wie es auf der Straße hieß, überallhin noch gute Kontakte?
Dorle nickte und wollte gleich das Tor schließen, aber Neubert hatte schon seinen Fuß dazwischen gestellt.
„Na, na, Dorle, wer wird denn so unhöflich sein“, sagte er und lächelte sie an. Seine Augen sagten aber was anderes.
„Wie ist er denn gestorben?“, fragte er.
„Das weißt du doch bestimmt?“, entgegnete Dorle.
Neubert schüttelte leicht den Kopf. „Ich würde es gerne von dir hören. Ist doch bestimmt schlimm für eine Mutter, ihren Sohn zu verlieren. Auch wenn er so ein schreiender Krüppel war. Kannst jetzt endlich wieder ruhig schlafen.“
„Was willst du damit sagen …“, brauste Dorle auf, aber der Mann vor ihr blieb
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