Unter Trümmern
ruhig, lächelte sie weiter überlegen an. „Gar nichts will ich damit sagen. Aber es ist ja schon einige Zeit ruhig. In deinem Haus. Hatte Rolf keine Schmerzen mehr? In der letzten Zeit?“
Er ließ sie nicht aus den Augen, registrierte jede Reaktion der Frau, als warte er auf ein Zeichen, das ihm weiteren Zündstoff gab.
„Jetzt hast du richtig viel Platz in deinem Haus“, sprach er weiter. „Denkst du auch an die armen Leute in der Stadt, die gar nichts haben? Was der Herrgott wohl dazu sagt, dass du ein ganzes Haus für dich allein hast und die anderen haben nichts. Und ein Mann fehlt hier, nicht wahr? Sehnst du dich nicht nach einem Mann, der aufs Haus aufpasst …?“ Er machte einen Schritt auf sie zu. Dorle roch das Nikotin, das er mit seinen Worten in ihre Richtung ausstieß, jetzt ganz genau. Ekel überkam sie, so stark, dass sie für einen Moment das Tor nicht mehr ganz so fest hielt und es ein Stück weiter öffnete. Neubert hielt das für eine Aufforderung, trat noch näher an Dorle heran, die aus ihrer Starre hochschreckte und das Tor panisch zuschlug. Der Schlag traf Neubert mit voller Wucht an der Stirn. Er wurde zurückgestoßen, verlor das Gleichgewicht, stolperte und wäre fast auf den Boden gefallen.
Dorle verschloss eilig das Tor und eilte sofort ins Haus zurück. Trotzdem erreichten sie seine Flüche und Verwünschungen noch.
„Das wirst du teuer bezahlen, Dorle Becker. Sehr teuer. Ich habe immer noch viel Einfluss. Du wirst schon sehen!“
Dann war es still. Drinnen ließ sich Dorle auf die Couch fallen und weinte. Sie spürte, dass es ein Fehler gewesen war, so zu handeln, aber sie hatte es ohne nachzudenken getan. Sie hatte nicht anders gekonnt. So sehr hatte sie sich vor Neubert geekelt.
Als Franzi am Nachmittag wiederkam, mit einem Korb, in dem sie ein paar Kartoffeln und ein Stück von einem Kohl trug, fand sie die Freundin im Keller neben ihrem toten Sohn kniend vor. Sie betete leise und an dem monotonen Tonfall bemerkte Franzi, dass etwas nicht stimmte. Sie wartete einen Moment, ging nach oben, feuerte den Herd, den Dorle hatte ausgehen lassen, wieder an, und setzte Wasser auf. Sie zupfte ein paar Kräuter in die Kanne und goss das heiße Wasser darüber, ließ den Sud ziehen, füllte eine Tasse und ging mit ihr in den Keller, wo sie sich neben die Betende stellte.
Die schien sie nicht wahrzunehmen, so vertieft war sie in das Zwiegespräch mit ihrem Gott. Noch einmal gab Franzi ihr ein paar Minuten und legte ihre Hand auf Dorles Schulter. Es dauerte einige Sekunden, bis die reagierte.
„Komm nach oben!“, bat Franzi. Sie versuchte die verweinten Augen zu ignorieren.
„Bald, Rolf, wirst du deine Ruhe haben!“, sagte Dorle zu ihrem Sohn und küsste ihm die kalte Stirn, bevor sie sich vollends erhob, langsam die Treppe in den Hof hinaufstieg und sich in der Küche gegenüber ihrer Freundin an den Tisch setzte.
„Neubert war hier“, sagte sie ungefragt.
Franzi nickte.
„Ich habe ihn rausgeschmissen. Er war sehr wütend.“
Franzi dachte einen Moment nach. „Neubert ist gefährlich. Der hat noch viele Kontakte. Er war einer der Ersten, der zu den Braunen übergelaufen ist.“
Dieses Mal nickte Dorle stumm Zustimmung.
„Wann ist die Beerdigung?“, fragte Dorle.
Franzi zuckte zusammen. Es fiel ihr schwer, die Nachricht ihrer Freundin zu überbringen.
„Der Pfarrer“, sagte sie schließlich, „will Rolf nicht beerdigen.“
Dorle schüttelte ungläubig den Kopf. Daran hatte sie noch gar nicht gedacht.
„Er darf keinen Selbstmörder in geweihter Erde bestatten, hat er gesagt.“
Dorle schüttelte noch immer ihren Kopf. Ganz leicht und mechanisch.
„Aber das … das geht … doch nicht“, entfuhr es ihr schließlich. Sie ließ ihren Kopf sinken. Gestern sah alles noch so gut aus und heute, heute war schon wieder alles vorbei. Warum lebte sie noch? Um sich von Neubert demütigen zu lassen? Um zu erfahren, dass sie Rolf nicht beerdigen durfte? Was sollte sie denn mit seinem Leichnam machen? Ihr Sohn musste doch Ruhe finden. Seinen Frieden.
Franzi war aufgestanden, hatte sich hinter sie gestellt und in den Arm genommen.
„Wir schaffen das schon“, sagte sie im Flüsterton. „Rolf wird beerdigt werden. Auf dem Friedhof.“
Draußen klopfte es ans Tor.
„Neubert!“, fuhr Dorle erschrocken auf.
Franzi hatte den gleichen Gedanken. Sie löste sich von ihrer Freundin und ging über den Hof zum Tor. Davor stand die alte Elisabeth mit betroffenem
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