Unter Trümmern
hatten, und Koch, der wegen des Zigarettenrauchs in der Wohnung mit offenem Fenster geschlafen hatte, war vom Lärm auf der Straße geweckt worden.
Zuerst war es ihm nicht aufgefallen, dass die Kollegen, denen er im Flur der Direktion begegnete, ihn nicht nur, wie sonst meistens, ignorierten, sondern auf eine ablehnend-abweisende Art ansahen, die etwas Feindseliges hatte. Aber da er einmal beschlossen hatte, diesen Animositäten keine erhöhte Aufmerksamkeit zukommen zu lassen, schob er die Beobachtung zur Seite.
Koch nippte an seinem Kaffee und schmunzelte über Siggi. Viel zu lernen hatte der noch, aber es konnte was aus ihm werden, überlegte er. Das kurze nächtliche Gespräch mit Reuber kam ihm in den Sinn. Hatte er vielleicht Recht? Musste man die Vergangenheit vergessen? Ein Stück weit nur? Nein, er war sich sicher, dass das nicht geschehen durfte. Dann wäre sein Vater ja völlig umsonst gestorben. Aber … erst jetzt kam ihm dieser Gedanke: War das Grab nicht der eigentliche Ort zum Gedenken, war seine Weigerung, sich um das genaue Schicksal seines Vaters zu kümmern nicht einfach nur Feigheit? Feigheit, sich mit der eigenen Biographie zu beschäftigen, seinen Taten, seiner Verantwortung, seinen Entscheidungen? Oder Bequemlichkeit? Hatten Leute wie Arnheim gar Recht, wenn sie ihm vorwarfen, von einem hohen Ross aus zu urteilen? Dennoch, er konnte, er wollte sich nicht damit beschäftigen. Noch nicht. Er brauchte Zeit.
Es klopfte an seine Tür.
„Ja!“, rief Koch.
Ein junger Mann streckte seinen Kopf durch den Türspalt.
„Herr Koch. Herr Arnheim möchte Sie sprechen.“ Er klang aufgeregt.
Koch erhob sich mit einem „Danke!“ und ging zum Büro seines Vorgesetzten, der ihn zehn Minuten vor der Tür warten ließ, bevor er ihn hereinrief.
Er zeigte mit einer Geste an, dass der Kommissar sich setzen sollte.
„Gratulation, Koch!“
Der verstand nicht und sah seinen Vorgesetzten entsprechend an.
„Kollege Seebald ist entlassen.“
Koch schwieg.
„Freuen Sie sich doch wenigstens!“
„Worüber sollte ich mich freuen?“, gab Koch zurück.
„Nun heucheln Sie doch nicht so, Koch! Sie haben Seebald doch angeschwärzt. Ihnen hat er es doch zu verdanken, dass er seine Arbeit verloren hat. Frau und drei Kinder, Koch, und keine Arbeit. Weil er angeblich in der SS war und das bei Einstellung verschwiegen hat.“
„Und ich soll ihn denunziert haben?“ Koch war so verwundert über den Vorwurf, dass er nicht einmal zornig werden konnte. Jetzt verstand er auch die Blicke der Kollegen auf dem Flur.
„Wer sonst?“
„Ich war das nicht. Ich wusste bis eben nicht einmal, dass Seebald in der SS war.“
Arnheim rutschte unruhig in seinem Sessel hin und her und fasste sich an das rechte Ende seines Schnurrbartes.
„Denunziation ist nicht meine Sache. Und wenn ich Seebald verpfiffen hätte, würde ich dazu stehen. Aber die Kollegen, haben die das von Ihnen?“
„Von mir? Nein, nein. Irgendjemand hat …“ Arnheim merkte, dass er sich auf sehr dünnes Eis begab. „Ich … ich will Ihnen glauben. Aufrecht sind Sie ja …“ Er machte eine Pause. „Ich muss mit Ihnen aber noch in einer anderen Angelegenheit sprechen.“
Er zündete sich eine Zigarette an und bestellte sich bei seiner Vorzimmerdame einen Kaffee, ohne Koch zu fragen, ob er auch einen wolle.
Als er das dampfende Getränk vor sich stehen hatte, spielte er wieder an seinen Bartenden.
„Hier!“, Arnheim klopfte mit dem Zeigefinger auf einen schmalen Ordner, „hier ist eine Meldung, Koch, die mich, ja, wie soll ich sagen, die mich sehr verwundert hat.“ Er sah auf und blickte seinen Kommissar an. „Können Sie sich vorstellen, was das ist?“
Koch antwortete mit einem kurzen „Nein“.
„Das, Koch, ist der Bericht eines Kollegen der Grenzpolizei, der vor zwei Tagen am Mainzer Bahnhof Dienst hatte und einen Streit schlichten musste. Einen heftigen Streit, der in einer Schlägerei mündete, wenn ich den Bericht richtig verstanden habe. Sie wissen jetzt, wovon ich spreche, Koch?“
„Ja.“
„Ein Kommissar, der sich in der Öffentlichkeit prügelt … Koch, ich muss Ihnen nicht sagen, wie sehr ich das missbillige und wie wenig das mit den Grundsätzen der neuen Polizei zu tun hat. Die braunen Zeiten sind vorbei. Ein für allemal.“
„Herr Arnheim, ich habe mich vertei…“
„Ich will das jetzt nicht hören, Koch. Ich erwarte von meinen Männern, dass sie sich korrekt verhalten. Haben Sie das verstanden? Korrekt.
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