Unter uns Pastorentoechtern
während ich Ihnen eine Tasse Tee hole.“ Als sie das Zimmer verlassen hatte, zermarterte ich mir das Hirn nach einer plausiblen Ausrede, rasch wieder zu verschwinden.
Wenige Minuten später erschien sie wieder mit einem Teetablett, bedeckt mit einem Spitzendeckchen, auf dem zwei Tassen Tee und ein Teller mit Plätzchen standen.
„Ich habe Milch und Zucker hineingetan. Ich hoffe, das ist Ihnen recht.“
„Sicher.“
„Nehmen Sie ein Plätzchen. Als ich hörte, daß Sie in der Straße unterwegs sind, bin ich extra schnell losgegangen, um sie zu holen.“
Ich nahm mir zwei Waffelplätzchen.
„Das ist sehr freundlich“, erwiderte ich und nahm einen Schluck Tee. Er war stark und sirupsüß. Mein Magen krampfte sich zusammen.
Sie ging hinüber zum Kaminsims, nahm ein Foto von einem Mann in Armeeuniform herunter und setzte sich neben mich.
„Das ist mein Mann“, sagte sie. „Er ist in Indien. Ich habe ihn seit drei Jahren nicht gesehen.“
Ich betrachtete Kopf und Schultern des Soldaten, auf dessen Haupt eine Feldmütze saß und dessen Gesichtsausdruck den angemessenen Ernst für einen Diener seines Landes aufwies.
„Sie vermissen ihn sicher sehr.“
„O ja! Es ist sehr einsam ohne einen Mann im Haus, wenn Sie verstehen, was ich meine.“ Sie rückte näher zu mir.
Ich verstand, was sie meinte. Das Zimmer schien enger zu werden.
„Singen Sie viel?“ versuchte ich verzweifelt das Thema zu wechseln. „Ich konnte am Sonntag Ihre Stimme heraushören.“
„Nett von Ihnen, daß Sie das sagen.“ Sie klimperte noch ein wenig mehr mit den Wimpern. „Ich war vor dem Krieg im Opernverein von Pontywen. Ich nehme an, nächstes Jahr wird er wieder eröffnet, nachdem nun der Krieg vorbei ist, bis auf diese Japaner.“
„Ich schätze, es wird nicht mehr lange dauern, bis sie aufgeben. Dann wird auch Ihr Mann nach Hause kommen.“
„Ja“, sagte sie ausdruckslos.
„Übrigens“, fuhr ich fort, „ich mag Gilbert und Sullivan sehr. Ich hätte durchaus Lust, in der Gemeinde eine Gruppe ins Leben zu rufen, um einige ihrer Opern einzustudieren.“
„Wie aufregend! Ich würde liebend gern eine dieser großen Rollen in Die Piraten von Penzance oder Die Gondolieri übernehmen.“
Ich stellte mir vor, wie sie ohne ihre Zähne die Rolle der schönen Mabel aus Die Piraten von Penzance sang. Schon der Gedanke war ein Alptraum. „Secombe“, sagte ich im stillen zu mir, „du mußt sofort hier raus.“
„Lieber Himmel!“ rief ich mit einem Blick auf die Uhr. „Ist es schon so spät? Ich muß gehen.“
Sie rollte ihre scharlachrot geschminkten Lippen zu einem Schmollmund zusammen. „Aber wir fangen doch gerade erst an, uns kennenzulernen“, beschwerte sie sich.
„Ich muß um vier zurück in meiner Bude sein, und vorher muß ich noch in die Melbourne Terrace“, sagte ich, während ich abrupt aufstand. „Vielen Dank für den Tee und die Plätzchen.“
„Sie haben ja nur einen Schluck getrunken“, sagte sie.
„Es tut mir leid — aber ich muß wirklich los.“
„Also, nächstes Mal müssen Sie aber länger bleiben.“
„Das werde ich auch, ich verspreche es.“ Ich hoffte, daß das nächste Mal in ferner Zukunft lag, in sehr ferner Zukunft.
Sie blieb auf der Schwelle stehen und winkte mir nach, bis ich das Ende der Straße erreicht hatte. Mehr um der Nachbarn als um meinetwillen, denke ich.
Die Melbourne Terrace, offensichtlich eine der vornehmeren Straßen in der Gemeinde, hätte für jeden Briefträger eine körperliche Herausforderung dargestellt. Jedes der aus dem hiesigen, schmutzig-braunen Gestein erbauten Häuser war nur über eine steile Treppe zu erreichen.
Ich schöpfte erst einmal Atem, als ich die Treppe des Hauses Nummer acht erklommen hatte, und betätigte sodann den schimmernden Messingtürklopfer, der das einzige helle Detail an der graubraunen Hausfront darstellte. Eine Minute später, als ich schon weggehen wollte, verriet ein Kettenrasseln hinter der verschlossenen Tür, daß die Zugbrücke sich gleich herabsenken würde.
Zu meinem Erstaunen erschien vor mir Miss Betsy Trotwood aus Dickens’ David Copperfield persönlich, wenn auch in Trauerkleidung. Nach meiner Liste handelte es sich um „Mrs. Powell (Witwe)“. Eine hochgewachsene, dünne, hagergesichtige alte Dame mit krausem Haar, gehüllt in eine schwarze Robe, die besser zu 1845 als zu 1945 gepaßt hätte. Nach einem Moment des Schweigens, währenddessen sie mich von Kopf bis Fuß musterte, sagte sie: „Sie sind
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