Unterm Messer
Was weiß ich schon von Nonnen ... Vielleicht haben sie ja recht. Würde auch zu dem passen, was Sam Miller erzählt hat. Mir macht Schwester Gabriela allerdings nach wie vor nicht den Eindruck einer Glaubenseiferin. Sie hat so getan, als könnte sie sich mit dem, was in der Schönheitsklinik passiert, ganz gut arrangieren. Schon allein deshalb, weil ihre Ordensgemeinschaft so eine Überlebenschance hat. Aber: Zumindest teilweise sind wir ihr auf den Leim gegangen. Schwester Cordula hat keine Tampons gebraucht. Also ist es sehr unwahrscheinlich, dass sie den Zettel mit dem Namen von Natalie Veith in einer Packung Tampons aufbewahrt hat. Möglicherweise hat es einen solchen Zettel gar nie gegeben. Wenn es so war: Warum wollte uns die alte Nonne zur Genetikerin führen? Und: Warum hat sie das nicht offen getan? Ich sehe wieder auf mein Mobiltelefon. Die im Moment wichtigere Frage ist: Warum meldet sich Vesna nicht? Hat sie ihr Telefon verloren? Wird es den Arbeiterinnen abgenommen? Wie hat sie es geschafft, als Packerin unterzukommen?
Ich fahre weiter, der Weg ist viel kürzer als gedacht und ich bin exakt auf der schmalen Straße, die an der ,Beauty Oasis‘ und dem Kloster vorbeiführt. Klar ist: Selbst wenn ich mich für die große Kombi aus Fettabsaugung, Gesichtslifting und Busenvergrößerung entscheide — in Grünwalds Schönheitsklinik bin ich nicht willkommen. Und was das Kloster angeht, so ist das wohl von Knoblochs Leuten besetzt. Ich fahre im Schritttempo an der ,Oasis‘ vorbei, nichts zu sehen, was irgendwie außergewöhnlich wäre. Eine ältere Frau mit einem Pflaster mitten im Gesicht — hat sie so viele Jahre gebraucht, um dann doch noch draufzukommen, dass sie mit ihrer Nase nicht weiterleben möchte? —, zwei junge Frauen im Gespräch, ein Bäcker, der gerade liefert, ein hellgrüner Kastenwagen von „Beauty&Young“ - offenbar ist Sams Order schon eingetroffen. Warum hat er eigentlich nicht telefonisch oder per E-Mail bestellt?
Weiter im Schritttempo zum Kloster. Kein Auto vor der Tür, auch kein Polizeiwagen. Allerdings weiß ich ja, dass im Garten zwei Carports stehen. Und dass Platz für deutlich mehr Autos wäre. Knobloch zeigt offenbar doch ein wenig Rücksicht gegenüber den Nonnen. Auch wenn das Getratsche nicht mehr lange aufzuhalten sein wird. Da fällt mir ein: Ich sollte herausfinden, ob der Chefinspektor tatsächlich für heute ein Pressestatement plant. Gleich nach dem Kloster zweigt ein schmaler Weg ab. Bäume, Büsche — eigentlich ein sehr guter Platz, um ein Auto einigermaßen versteckt zu parken. Wer kann mir verbieten, hier spazieren zu gehen? Ich will wissen, was im Kloster der heiligen Hildegard los ist. Vielleicht begegnet mir eine der geistlichen Schwestern, wenn ich mich in den Garten verirre.
Ich stelle meinen Allrad-Honda so tief wie möglich ins Gebüsch, klettere über Zweige und Äste, gehe den Weg entlang, sehe mich um, bevor ich auf die Straße biege. Hundert Meter und da ist das Tor zum Klostergarten. Noch einmal ein rascher Blick und ich bin drin. In einem der Carports Schwester Gabrielas Kleinwagen, der andere ist leer. Keine Polizei. Oder haben sich die Ermittler beim Kloster absetzen lassen? Polizeibeamte ohne Auto? Vielleicht ist alles schon vorbei und Schwester Gabriela sitzt längst in U-Haft? Hat sie gestanden? Das bleiche, faltige Gesicht, das nie Schminke gesehen hat, das nie von einem Skalpell berührt wurde, zum Himmel gewandt: „Der Herr ist mein Richter.“ Und Knobloch darauf: „Abführen!“ Ich schüttle den Kopf. Da passt etwas nicht.
Niemand im Garten. Der Glockenturm ist tatsächlich einfach an das Gebäude angebaut. Wahrscheinlich Teil einer Kapelle, die vom Hausinneren zu betreten ist. Arbeiten alle Nonnen in der ,Beauty Oasis‘ ? Auch an einem Tag wie heute? Ich gehe langsam Richtung Hintereingang. Ich drücke die Klinke, die Tür geht geräuschlos auf. Ich bin in einem Vorraum. Hier ist kein großes Bild der heiligen Hildegard, kein Spruch an der Wand, keine Kerze. Dafür stehen zwei Paar Gummistiefel da. Und an einem Haken hängt eine Gartenschürze. Licht dringt nur durch den Spalt der Türöffnung herein. Geheimnisvolles Halbdunkel. Wie alt ist dieses Kloster eigentlich? Steinboden. Kein Teppich. Zwei weitere Türen. Beide sind zu. Die eine könnte in den größeren vorderen Vorraum führen. Die an der Seitenwand in einen Raum nahe dem Glockenturm. Ich nehme diese Tür, öffne sie leise, vorsichtig. Ich weiß, dass ich hier
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