Unterm Messer
jedenfalls ein Eindringling bin. Ich stehe in einer kleinen Kapelle. Nur drei Bankreihen, ein schlichter Steintisch als Altar. Auf der linken Seite ein großes schmuckloses Holzkreuz. Dahinter der Glockenturm mit einem Fenster ganz hoch oben. Blau und grün und rot schimmert es in den Raum, die Strahlen scheinen sich zu bewegen, lebendiger Geist. Ich schlage ein Kreuzzeichen. Langsam und andächtig, es gibt Plätze, da ist das als Zeichen des Respekts ganz natürlich. Ich atme langsam und tief und denke an gar nichts und erst jetzt sehe ich sie: Schwester Gabriela. Sie liegt auf dem Boden unter dem Kreuz. Lang ausgestreckt auf dem Bauch, die Arme nach vorne Richtung Kreuz, das Gesicht nach unten.
Ich kann nicht schreien. Ich gehe nur ganz langsam auf sie zu und sehe dabei die grünen und blauen und roten Strahlen, vergeistigtes Leben, Seele befreit vom Leib. Ihre Seele. Ich kann sie jetzt beinahe berühren. Ich muss aus dieser Trance aufwachen. Ich muss Knobloch, Simatschek, Vesna ... Klingt wie ein Gebet. Die Schutzheiligen der nächsten Toten. Sind sie es? Sind es alle von ihnen? Ich habe schon Visionen. Der Körper der alten Nonne hat sich bewegt. Die Auferstehung des Fleisches. Ich werde es bezeugen. Der Jüngste Tag ... Der Körper bewegt sich deutlicher. Moment, Mira. Die Nonne ist noch nicht tot. Sie zieht die Arme an, versucht auf die Beine zu kommen. Ich mache einen raschen Schritt nach vorn, weiß nicht, ob ich sie angreifen darf. Sie stöhnt, dann kniet sie am Boden. „Was ist?“, rufe ich. Es klingt nach Blasphemie. Sie rappelt sich auf und steht, sieht mich eine Spur verwirrt an. „Sie?“
„Wer hat Sie niedergeschlagen?“ Ich versuche zu flüstern, es ist immer noch zu laut für den Raum.
Sie schüttelt den Kopf, als müsste sie sich erst von allem Möglichen befreien. „Ich habe gebetet“, sagt die alte Nonne dann mit klarer Stimme.
„Sie haben Sie nicht in Untersuchungshaft genommen?“
„Kommen Sie bitte mit“, erwidert Schwester Gabriela. Es klingt nach einem Befehl.
Ich bin ihr durch den hinteren und den vorderen Vorraum gefolgt, dann nehmen wir die Treppe in den ersten Stock. Sie öffnet die Tür am Ende des Ganges, wir stehen in einem geräumigen Zimmer. Klosterzellen habe ich mir anders vorgestellt. Ein großes Fenster mit Blick den Hügel hinunter, hinein ins Land, vis-à-vis die Burg. Ein altes, hohes Kastenbett, helle Bettwäsche, doppeltüriger Schrank aus hellem Holz. Viele Bücherregale, auf einem Tischchen ein Fernseher. Davor ein moderner Sessel, so einer, bei dem man das Fußteil in die Waagrechte klappen kann. Ein Holzstuhl mit einer braunen Wolljacke darüber. Schwester Gabriela nimmt die Jacke und legt sie aufs Bett, deutet, dass ich auf dem Fernsehsessel Platz nehmen soll. Es kommt mir irgendwie ungehörig vor, ich entscheide mich, ohne etwas zu sagen, für den Holzstuhl. Sie sieht mich an und beginnt auf und ab zu gehen.
„Die Polizei ist weg?“, frage ich nach einer Weile.
„Vorläufig“, antwortet die Nonne und setzt ihren Gang fort. Dann bleibt sie abrupt vor mir stehen und starrt mich an. „Sie glauben auch, dass ich diesen Schilling ermordet habe?“
„Ich weiß es nicht“, murmle ich. „Ich denke, Sie wären nicht kräftig genug.“
Die Nonne lächelt, es ist ein Hauch von einem Lächeln, ähnlich einem der bunten Lichtstrahlen in der Kapelle. „Das wäre sich ausgegangen. Schilling wurde betäubt, bevor man ihn erstochen hat. Offenbar mit einem der Mittel, die in der ,Oasis' relativ einfach zu erreichen sind.“
„Den Zettel mit dem Namen der Genetikerin hat es nie gegeben, nicht wahr?“, frage ich sie dann.
„Nein, den hat es nicht gegeben. Es war mit ein Grund, warum ich versucht habe mich ins Gebet zu versenken. Ich wollte herausfinden, wie viel Anteil ich an dem habe, was hier momentan passiertl,“
„Warum haben Sie uns angelogen?“
„Tja“, sagt die Nonne, rückt den Fernsehsessel näher heran, setzt sich und sieht mir gerade ins Gesicht. „Wahrscheinlich weil ich die Wahrheit wollte und gehofft habe, Sie würden sie finden.“
„Hat Natalie Veith etwas mit den Morden zu tun?“ Kann ich mir nicht vorstellen. Ich darf mich von der Nonne nicht wieder einwickeln lassen.
„Nein, das glaube ich nicht. Sie ist von hier weggegangen, weil sie von Grünwalds Geschäftemachereien genug hatte. Ich habe gehhofft, sie würde offen mit Ihnen reden.“
„Wäre diese Informationen bei der Polizei nicht besser aufgehoben gewesen?“
Die
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