Unternehmen Wahnsinn
warnen: Komplexe Unternehmenswelten lassen sich mit den Mitteln des (überwundenen) linear-mechanistischen Zeitalters nicht steuern. Die Analyse von Zahlenkolonnen bringt kein eindeutiges Rechen-Ergebnis, geschweige denn eine eindeutige Handlungskonsequenz. Die Verknüpfung von Zahlen, Menschen, Strukturen, Märkten, Strategien auf dem weltweiten Feld des Wirtschaftens ist einfach zu vielschichtig. Wir müssen lernen, mit Multikausalität, Mulitivariabilität, Vieldimensionalität und Offenheit umzugehen. Das macht das Ganze reichlich unübersichtlich. Eine Rezeptur, die gegen dieses Leiden vermehrt angeboten wird, heißt: »simplify your life«. Die etwas anspruchsvollere Rezeptvariante ist das »systemische Denken«, es präferiert das Jonglieren mit Selbstorganisation, Komplexitätsmanagement und Kontext-Intelligenz.
De facto wird aber weder simplifiziert noch linear noch systemisch gedacht. Sondern zunehmend gar nicht mehr.
Rückfall in die Merlin-Ära
Es ist angesichts der viel beschworenen Komplexität etwas Gravierendes, nämlich eine Retrobewegung sondergleichen zu beobachten: der Rückfall ins magische Zeitalter, das ja historisch gesehen vom mechanisch-linearen abgelöst wurde. (Die klassische Antike mit der aristotelischen Logik ist die erste große rationale Auseinandersetzung mit den magischen Praktiken. Diese Logik kann als Basis des »mechanischen Zeitalters« gelten, bevor dann Kybernetik, Relativitäts- und Systemtheorie das Zeitalter der Komplexität einläuteten.)
Magie versucht traditionell, die als übernatürlich angesehenen Kräfte, denen man sich ausgeliefert fühlt, durch Rituale, Beschwörungsformeln etc. zu beeinflussen und gnädig zu stimmen. Und heute scheint die ausgemachte Komplexität den Menschen wirklich zu überfordern. Er will offenbar gar keine Erklärung mehr, sondern sucht nach Rettung, nach Ausweg, Schutz und Schirm. Was sich vollzieht, ist die Kapitulation der Ratio und ihrer Werkzeuge – Denken, Verstand, Prüfung, Analyse, Logik, Erkenntnis – vor multiplen Mächten und Gewalten. Nicht nur das lineare Denken wird »überwunden«, sondern das Denken überhaupt.
Lieber gleich beten und glauben?
Allgemein-gesellschaftlich ist in den Hochburgen westlicher Säkularisation seit geraumer Zeit klar erkennbar, wie die Bedeutung spiritueller Bewegungen und Praktiken wächst. Da ist die Eso-Beratungsindustrie mit »Buddha für Manager in drei Minuten«, das sind die knallharten, religiös-fundamentalistischen Strömungen, da sind überhaupt Päpste und Gurus für alles und jeden. Literatur- und Fitnesspäpste, Koch- und Internet-Gurus. Auch in der Wirtschaft wird der Wettstreit großer Unternehmen, etwa von
Microsoft und Apple, als Glaubenskrieg bezeichnet. Man ist Mac-Jünger oder Microsoftie. Neuerdings stoßen Facebook und Google in den Bereich der Unternehmensmythen vor. Sie »kämpfen um die digitale Seele der Menschheit«! 29
Im Bereich der Produktion von Waren offenbart sich der Mythenwahn im Retrotrend: Beetle und Cinquecento feiern ebenso Erfolge wie die Variationen der Handmade-Branche (mit Manufactum etc.). Produktshows werden wie Messen zelebriert; Kunden warten auf die Offenbarung von Neuerungen wie Jünger auf die Ausgießung des Heiligen Geistes. Verkauft wird nicht eine Funktionalität, sondern ein Heilsversprechen, welches das Produkt umgibt. Solcherart zu Kult-Produkten stilisiert, signalisieren sie den Käufern die Zugehörigkeit zu einem Kreis der Auserwählten und machen selig.
In diesen Zusammenhang fällt der fast schon dogmatische Glaube an die Weisheit der vielen, an die unbestechliche Wahrheit des Algorithmus. Dieses ehemals taugliche Instrument zur Ermittlung zum Beispiel eines passenden Marktpreises aus einer Vielzahl von Daten wird heute als eine Art höhere, orakelhafte Intelligenz anerkannt.
Ein Verdacht liegt nahe
»Das ist alles sehr komplex« – dieser Ausspruch ist heute nichts weniger als die Aufforderung zu glauben. Er bedeutet im Unternehmenskontext oft: »Es sprengt jetzt den Rahmen, das ganze Projekt ausführlich darzustellen; das alles ist in seiner Fülle und Verwickeltheit nicht voll zu erfassen; seien Sie froh, dass ich das für Sie so vorbereitet habe. Ich nehme Ihnen das Risiko ab.«
Mit dem Komplexitätshebel lässt sich jedes noch so schlüs-
sige Argument entkräften, nach dem Motto: Na, wenn es so einfach wäre. Der bloße Hinweis darauf, dass nun alles wirklich ein wenig komplexer ist, kann Gesprächspartner zu
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