Unterwegs in der Weltgeschichte
nicht nur neue Töne, das ist ein neues Weltbild. Die »gottgewollte« Ordnung der mittelalterlichen Gesellschaft und ihrer Stände, in der jeder Einzelne â ob Bauer, Mönch oder Adliger â seinen festen, unverrückbaren Platz, seine Rechte und seine Aufgaben hatte, beginnt sich aufzulösen. Für die Humanisten ist das Leben mehr als eine Durchgangsstation zum Jenseits und mehr als ein Forum für die kirchlichen Glaubens- und Verhaltensvorgaben. Es ist ein einzigartiges Geschenk, eine Aufforderung an den Menschen, sich selbst, seine Welt und die ihn umgebende Natur zu erforschen und zu gestalten.
Aber die neuen Denker sind nicht nur selbstbewusst, sie sind auch bescheiden. Die Einladung ins Diesseits, die sie aussenden, deklarieren sie nicht als ureigene Erfindung, sondern als Rückkehr in eine freilich sehr ferne Vergangenheit. Das Mittelalter, das sie hinter sich lassen wollen, gilt ihnen als eine Epoche der Erstarrung und der Finsternis. Dahinter aber nehmen die Humanisten den Lichtstrahl der Antike wahr, der ein ganz anderes, ursprüngliches, ein auf Freiheit und Entfaltung gerichtetes Menschenbild anzeigt. Die Leuchtkraft dieser »klassischen« Werte und MaÃstäbe nachzuempfinden und in die Gegenwart zu übertragen, erleben sie als eine Renaissance , eine Wiedergeburt.
Das neue Denken ging von Nord- und Mittelitalien aus, wo sich Stadtstaaten wie Mailand, Pisa, Venedig und Florenz zu politischen Machtzentren entwickelt hatten. Sie hatten in langen Kämpfen mit den deutschen Kaisern ihre Unabhängigkeit erworben und waren durch die Kreuzzüge, ihre Bankgeschäfte und ihre intensiven Handelsbeziehungen reich und mächtig geworden. Seit dem zwölften Jahrhundert regierten sie sich zumeist selbst. Weder der Papst in Rom noch der Kaiser nördlich der Alpen war noch in der Lage, sie zu kontrollieren. Zunehmend bestimmten entweder die erfolgreichsten und wohlhabendsten Bürger â wie die Familie Medici in Florenz â oder die Fürsten, etwa in Mailand, die Politik.
Es war eine Politik, die den geistigen Aufbruch der Humanisten unterstützte und beflügelte. Souveränität und wirtschaftliche Stärke der städtischen Eliten führten zu einer intensiven, dauerhaften Förderung von Bildung und Kultur. Die alten Leitbilder dafür waren mit der Erosion der mittelalterlichen Ständeordnung und dem schwindenden Einfluss der Kirche untergegangen. Die neuen suchte man im Menschenbild und in den Lebensformen der Antike â und fand deren Zeugnisse nicht selten direkt vor der Haustür oder in der näheren Umgebung: Münzen, Gräber, Tempel, Plastiken, Fresken, Ruinen von Amphitheatern, verschollene Schriften in Klosterbibliotheken. Alles Dinge, die zuvor keiner Betrachtung wert gewesen waren. Nun wurden sie als Zeugen eines groÃen Zeitalters wiederentdeckt und fast heiliggesprochen.
Einen unerwarteten, eher zwiespältigen Auftrieb erhielt die Renaissance infolge der Erstürmung von Konstantinopel durch die Türken im Jahr 1453. Viele griechische Gelehrte und Künstler des Oströmischen Reiches flohen nach Italien und vermehrten die Kenntnis des Altertums durch eine Fülle längst verloren geglaubter Texte und Dokumente.
Einen Widerspruch zur Religion und zum Christentum sahen die Humanisten nicht. Im Gegenteil: War der Mensch wirklich das Ebenbild Gottes, so sollte er auch von seiner Fähigkeit zu denken, zu sehen, zu hören uneingeschränkt Gebrauch machen. Nur so könne er seiner Freiheit gerecht werden. Ein schlichter junger Mann, in Kues an der Mosel geboren und später Sekretär des päpstlichen Legaten in Deutschland, brachte es am besten auf den Punkt: »Der Mensch besitzt eine Stadt mit fünf Toren, den fünf Sinnen. Durch diese treten Boten ein und bringen Berichte aus der ganzen Welt.« Wer diese Nachrichten empfange, aufzeichne und ordne, werde sich seiner Besonderheit und Begnadung bewusst, »er findet in sich die Zeichen Gottes, in ihm leuchtet die Schöpferkraft mehr als in jedem anderen Lebewesen wider«. Erst spät, Ende des zweiten Jahrtausends, erfährt der groÃe Philosoph Nikolaus von Kues seine Renaissance.
War der Blick des Menschen zuvor fast ausschlieÃlich vertikal zum Himmel, zu Gott gerichtet, so eröffnen ihm die fünf Stadttore des Cusanus nun die freie Sicht in der Horizontalen, die Wahrnehmung der Welt um ihn herum. Die Landschaft wird
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