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seine Liebe zu der Zwanzigjährigen beseitigt ist. Und so heiraten die beiden und hätten auch glücklich miteinander gelebt, wenn sich die Polizei nicht eingeschaltet und die Geschichte zu einem durch und durch vulgären Abschluß gebracht hätte.
Das zweite Ereignis konnte man im ›Corriere della Sera‹ vom 27. März 1920 lesen und hatte den - ziemlich pirandellianischen - Titel Ehrfurchtsbezeigung eines Lebenden an seinem eigenen Grab. Ich zitiere hier Pirandello ausführlich.
Ein einzigartiger Fall von Bigamie, ermöglicht durch den zwar amtlich beglaubigten, aber nicht tatsächlich stattgehabten Tod eines Ehemannes, ist dieser Tage aufgedeckt worden. Werfen wir einen Blick auf die Vorgeschichte.
Am 26. Dezember 1916 fischten ein paar Bauern im Bezirk Calvairate bei ›Cinque Chiuse‹ die Leiche eines mit kastanienbraunem Pullover und ebensolchen Hosen bekleideten Mannes aus dem Kanalwasser. Der Fund wurde den Carabinieri angezeigt, die Ermittlungen einleiteten. Die Leiche wurde kurz darauf von einer gewissen Maria Tedeschi sowie von Luigi Longoni und Luigi Majoli als die des 1869geborenen Elektrikers Ambrogio Casati, Sohn des Luigi, des Ehemanns der Tedeschi, identifiziert. Tatsächlich sah der Ertrunkene Casati sehr ähnlich.
Nach dem jetzigen Stand der Erkenntnisse war diese Zeugenaussage, insbesondere von Seiten Majolis und der Tedeschi, von erheblichem persönlichem Interesse bestimmt. Der wahre Casati war nämlich am Leben! Er war jedoch seit dem 21. Februar des Vorjahres wegen eines Eigentumsdeliktes in Haft gewesen und hatte seit langem, wenn auch nicht legal, von seiner Frau getrennt gelebt. Nach sieben Trauermonaten war die Tedeschi eine neue Ehe mit dem Majoli eingegangen, ohne auf irgendein bürokratisches Hindernis gestoßen zu sein. Casati hatte die Haftstrafe am 8. März 1917 verbüßt, aber erst in diesen Tagen erfuhr er, daß er… tot sei und seine Frau sich wieder verheiratet hatte und verschwunden war. Das alles wurde ihm mitgeteilt, als er auf dem Einwohner meldeamt vorstellig wurde, weil er ein Dokument benötigte. Der Angestellte hinter dem Schalter hatte ihn unerbittlich fixiert:
»Sie sind doch tot! Ihr ordentlicher Wohnsitz ist der Musocco-Friedhof, Feld 44, Grab Nr. 550…«
Alle Proteste dessen, der für lebendig erklärt zu werden wünschte, blieben vergeblich. Casati nimmt sich vor, sich sein Recht auf… Wiederauferstehung anerkennen zu lassen; sobald hinsichtlich seiner Person der Personen stand berichtigt ist, wird die zweite Ehe der wiederver heirateten angeblichen Witwe annulliert werden.
Indes hat das äußert befremdliche Abenteuer Casati keineswegs betroffen gemacht: Man könnte im Gegenteil sagen, es habe ihn in gute Laune versetzt; da er einmal ein ganz neues Gefühl kennenlernen wollte, entschied er sich zu einer Stippvisite bei… seinem eigenen Grab, legte dort zu dem treuen Gedenken an sich selbst einen Kranz nieder und entzündete eine Votivkerze!
Pirandello kommentierte die Nachricht auf folgende Weise - und behielt dabei immer die Vorwürfe der Absurdität und der Unwahrscheinlichkeit im Blick, die gegen den Roman vorgebracht worden waren:
Der mutmaßliche Selbstmord in einem Kanal; der aus dem Wasser gezogene und von der Ehefrau sowie von dem, der dann ihr zweiter Mann wird, wiedererkannte Leichnam; die Rückkehr des scheinbar Toten und sogar noch die Ehrung am eigenen Grab! All die tatsächlichen Fakten der Geschichte also, natürlich ohne all das andere, das der Angelegenheit allgemeinmenschlichen Wert und Sinn geben sollte.
Ich kann nicht unterstellen, daß der Herr Elektriker Ambrogio Casati, meinen Roman gelesen - und die Blumen in Nachahmung des seligen Mattia Pascal auf sein Grab gelegt hat.
Das Leben jedoch - in seiner ungenierten Verachtung jeglicher Wahrscheinlichkeit - konnte problemlos einen Priester und einen Bürgermeister finden, die Herrn Majoli und Frau Tedeschi in der Ehe vereinten, ohne sich um die Fakten zu kümmern, von denen man zweifellos leicht hätte Kenntnis haben können; nämlich, daß der Ehemann Casati sich in Haft befand und nicht unter der Erde.
Die Phantasie hätte gewiß Skrupel gehabt, sich über solch eine Tatsache hinwegzusetzen, und eingedenk des Vorwurfs der Unwahrscheinlichkeit, den man ihr auch hier gemacht hat, genießt sie es jetzt, darauf hinzuweisen, zu welchen tatsächlichen Unwahrscheinlichkeiten das Leben fähig ist, sogar in jenen Romanen, die es, ohne
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