Untitled
eines Tages zum Tragen falscher Zähne gezwungen zu sein, die Seine Lordschaft beim ersten Anzeichen von Unheil auf dem schnellsten Wege zum Zahnarzt beorderte, auch um den Preis, jede Verabredung und jeden Termin durch seine überstürzte Flucht sausenzulassen. Da waren die Inkunabeln und das Klavier, deren Hege und Pflege das tägliche Temperaturmessen in Bibliothek und Musikzimmer einschloß, da war die Passion für Rituale, die bei einer einsamen Mahlzeit offenbar drei Meter Mahagoni zwischen den Eheleuten erforderlich machte und die jeder Bitte um Harriets Erscheinen in einem anderen Teil des Hauses die Entsendung eines Lakaien mit den besten Empfehlungen vorausgehen ließ. Und schließlich gab es den grotesken Kontrast zwischen Peters Zaghaftigkeit als Ehemann und seinem Selbstvertrauen als Liebhaber, so daß er im Schlafzimmer keinerlei Hemmungen an den Tag legte, sondern lediglich eine unendliche Reihe von Galanterien. Das Maß, in dem ihm jegliche Gefühlsäußerung in der Öffentlichkeit verhaßt war, fand seine Entsprechung nur in Peters erschütternder Ungezwungenheit in Gegenwart der Dienstboten, die er gar nicht zur Kenntnis zu nehmen schien.
Lady Peter Wimsey, die nachdenklich an ihrer Zigarettenspitze kaute, sah vom Papier auf und starrte aus dem Fenster. Ihr wurde langsam klar, warum die Ehe manchmal ein Handicap für die Karriere einer Romanautorin ist. Die Erfahrung der Liebe – jedenfalls einer erwiderten, glücklichen Liebe – fördert die schöpferische Vorstellungskraft nicht, sondern läßt sie im Gegenteil einschlafen. Daher auch, so vermutete sie, der eklatante Mangel an wirklich heiteren Liebesgedichten in der Weltliteratur. Sie hatte einen Großteil ihrer Arbeitszeit an diesem Morgen aus dem einfachen Grund vergeudet, daß sie unfähig war, sich zu konzentrieren. Am Nachmittag hatte sie sich nun mit dem festen Vorsatz hingesetzt, das Kapitel zu beenden. Da sich draußen ein unbarmherziger Dauerregen ergoß, gab es keine Versuchung hinauszugehen, und da Peter einen Geschäftstermin wahrnahm, konnte wohl für ihn gelten, daß er nicht nur aus den Augen, sondern auch aus dem Sinn war. In dem kleinen Raum, der sich an Harriets Arbeitszimmer anschloß, saß Miss Bracy, die Sekretärin, vor der stummen Schreibmaschine und strickte vorwurfsvoll einen Pullover. Miss Bracy hatte diesen vorwurfsvollen Blick immer dann, wenn es für sie kein Manuskript zu bearbeiten gab. Sie führte ihre Tätigkeit schnell und effektiv aus, und es war nicht leicht, ihr den Nachschub zu sichern.
«Gierschlund», dachte Harnet, zündete sich eine neue Ziga
rette an und drückte ihre Ellbogen durch, um sich darauf vorzubereiten, sich von neuem auf ihre detailgetreue und wissenschaftliche Beschreibung einer zehn Tage alten Leiche zu stürzen, die die Polizei gerade aus dem städtischen Wasserreservoir gefischt hatte. Also ein Thema, das so recht geeignet war, einem die Tagträumereien auszutreiben.
Aber wie Dr. Donne, wenn er über seinen Predigten saß, war
auch sie in einer Stimmung, ihre Beschäftigung schon «für das Summen einer Fliege, für das Rattern einer Kutsche, für das Quietschen einer Tür …» zu vernachlässigen. Das Klirren eines Pferdegeschirrs und das Geklapper von Hufen unter dem Fenster waren hinreichend ungewöhnliche Geräusche, um Nachforschungen zu rechtfertigen.
Sie schaute hinaus. Ein Brougham mit einem rundlichen Kutscher und zwei dicken, glänzenden Pferden fuhr unten an der Tür vor. Es war offensichtlich, daß sich hier Besuch von besonderem Kaliber ankündigte – jemand, der nie im Leben bei Miss Harriet Vane angeklopft hätte, der aber durchaus jederzeit und ohne Vorwarnung einen Überfall auf Lady Peter Wimsey veranstalten konnte. Ihre Ladyschaft unterdrückte Miss Vanes Impuls, den Kopf aus dem Fenster zu stecken, legte statt dessen den Dichterkiel beiseite und fragte sich, ob sie wohl für den Empfang der guten Fee, die nun zweifelsohne dieser märchenhaften Kürbiskutsche entsteigen mochte, angemessen gekleidet sei.
Auf einem Tablett wurde die Karte hereingetragen.
«Die Komtesse von Severn und Thames, Mylady. Sind Eure Ladyschaft zu sprechen?»
Selbstverständlich mußte man für Lady Severn zu sprechen sein, die ein sagenhaftes Alter erreicht und einen furchteinflößenden Ruf erworben hatte. Harriet sagte mit schwacher Stimme, ja, sie sei zu sprechen, und besaß genug Geistesgegenwart, nun nicht in die Halle zu stürzen, sondern dem bedrohlichen Urgestein genügend
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