Untitled
schöne Sonnenaufgänge geben, aber – ehrlich gesagt – ein bisschen Angst habe ich auch.«
»Ehrlich gesagt. Ja, wir wollen uns immer alles ehrlich sagen«, sagte ich.
»Okay. Ja, ich habe große Angst«, gestand Jannie mit dünnem Stimmchen.
»Ich auch, Schätzchen.«
Wir hielten uns an den Händen und schauten hinauf in die wunderschöne orangegelbe Sonne. Jannie war sehr still. Es bedurfte meiner gesamten Willenskraft, jetzt nicht schlappzumachen. Ein Kloß stieg mir in die Kehle. Ich vertuschte es mit einem falschen Gähnen, war aber sicher, dass ich Jannie nicht getäuscht hatte.
»Was passiert heute Morgen?«, fragte Jannie schließlich flüsternd.
»Nun, du wirst auf die Operation vorbereitet«, erklärte ich ihr. »Vielleicht machen sie noch eine Blutuntersuchung.«
Sie rümpfte die Nase. »Hier gibt's Vampire, weißt du. Deshalb wollte ich, dass du heute Nacht hier bleibst.«
»War 'ne gute Idee. Nach Mitternacht hab ich nämlich tatsächlich etliche Angriffe von Vampiren und Werwölfen zurückgeschlagen. Ich wollte dich nicht wecken. Hör mal, wahrscheinlich werden sie dich gleich rasieren.«
Jannie legte die Hände über den Kopf. »Nein!«
»Nur hinten, und nur ein bisschen. Sieht bestimmt echt cool aus.«
Sie schaute immer noch entsetzt drein. »Ja, bestimmt. Warum rasierst du dich nicht hinten am Kopf, wenn du 's so schön findest? Dann sehen wir beide echt cool aus.«
Ich grinste sie an. »Wenn du willst, mach ich das glatt.«
Dr. Petito betrat Jannies Zimmer und hörte, wie wir einander aufzumuntern versuchten.
»Du bist die Nummer eins auf unserer Liste, Jannie«, erklärte er und lächelte.
Jannie warf sich in die Brust. »Siehst du? Ich bin die Nummer eins.«
Um fünf nach sieben brachten sie Jannie fort.
S tändig hatte ich ein ganz besonderes Bild im Kopf: wie Jannie mit der Katze Rosie tanzt und dazu »Rosen sind rot« singt. An jenem langen, schrecklichen Vormittag im St. Anthony's ließ ich die Szene immer wieder vor meinem geistigen Auge ablaufen. Ich denke, dass die Warterei in einem Krankenhaus am ehesten mit einem Aufenthalt in der Hölle zu vergleichen ist – oder zumindest mit dem Fegefeuer. Nana, Damon und ich wechselten die ganze Zeit über kein Wort. Sampson und Jannies Tanten kamen kurz vorbei. Auch sie waren am Boden zerstört. Es war schrecklich. Die schlimmsten Stunden meines Lebens.
Sampson ging mit Nana und Damon in die Cafeteria, um etwas zu essen, aber ich konnte nicht weg. Immer noch hatten wir keine Nachricht, wie es um Jannie stand. Alles im Krankenhaus kam mir unwirklich vor. Bilder von Marias Tod gingen mir durch den Kopf. Nachdem meine Frau von ihrem Mörder aus einem fahrenden Auto heraus erschossen worden war, hatte man auch sie ins St. Anthony's gebracht.
Kurz nach siebzehn Uhr betrat Dr. Petito den Warteraum, in dem wir uns versammelt hatten. Ich sah ihn, bevor er uns sah, und mir wurde übel. Plötzlich raste mein Herz und pochte laut. Ich konnte an seinem Gesichtsausdruck nichts erkennen, nur dass er müde aussah. Als er uns erblickte, winkte er und kam herüber.
Er lächelte. In diesem Augenblick wusste ich, dass alles gut war.
»Wir haben es geschafft«, sagte Dr. Petito. Er schüttelte mir die Hand, dann Nana und Damon. »Ich gratuliere.«
»Danke für Ihre Aufopferung«, flüsterte ich und erwiderte kräftig seinen Händedruck.
Eine Viertelstunde später ließ man Nana und mich auf die Wachstation. Unvermittelt fühlte ich mich wie auf Wolken, angenehm beschwingt. Jannie war die einzige Patientin. Leise, fast auf Zehenspitzen, gingen wir zu ihrem Bett. Ein Gazeturban bedeckte ihren kleinen Kopf. Sie war an Monitore und einen Tropf angeschlossen.
Ich nahm eine Hand, Nana die andere. Unserem kleinen Mädchen ging es gut. Sie hatten es geschafft.
»Ich habe das Gefühl, als wäre ich lebendig in den Himmel aufgefahren«, sagte Nana und lächelte mich an. »Du auch?«
Nach fünfundzwanzig Minuten bewegte Jannie sich und erwachte. Dr. Petito wurde gerufen und kam nach kurzer Zeit. Er bat Jannie, mehrmals tief zu atmen und dann zu husten.
»Hast du Kopfschmerzen, Jannie?«, fragte er.
»Ich glaube schon«, antwortete sie.
Dann schaute sie Nana und mich an. Als sie die Augen weit aufmachen wollte, musste sie blinzeln. Offensichtlich war sie noch etwas benommen. »Hallo, Daddy. Hallo, Nana. Ich wusste, ihr würdet auch im Himmel sein«, sagte sie.
Ich drehte mich um, damit sie sehen konnte, was ich getan hatte.
Ich hatte mir die
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