Untitled
hatte gesagt, sie sei in North Carolina. Das war im Grunde alles, was sie gesagt hatte. Ich war wieder allein, und es gefiel mir gar nicht.
Ich sah Jezzie nicht vor dem Gerichtsgebäude, aber Anthony Nathan stieg aus einem dicken silbernen Mercedes. Das war sein großer Augenblick. Reporter stürzten sich auf Nathan. Sie waren wie Stadtvögel, die auf alte Brotkrumen herunterstoßen.
Die Fernseh- und Zeitungsreporter versuchten, ein Stück von mir und Sampson zu erhaschen, ehe wir über die Gerichtstreppe entkommen konnten. Wir waren beide nicht wild darauf, wieder interviewt zu werden.
»Dr. Cross! Dr. Cross, bitte!« rief jemand. Ich erkannte die schrille Stimme. Sie gehörte einer Nachrichtenredakteurin vom Regionalfernsehen.
Wir mußten stehenbleiben. Sie waren hinter uns und vor uns. Sampson summte ein Lied von Martha und den Vandellas:
»Nowhere to Run«.
»Dr. Cross, haben Sie das Gefühl, daß Ihre Aussage tatsächlich dazu beitragen könnte, Gary Murphy von der Mordanklage freizusprechen? Daß Sie ihm vielleicht unfreiwillig dabei geholfen haben, straflos davonzukommen?«
Schließlich riß mir der Geduldsfaden. »Wir sind einfach glücklich, daß wir in der Super Bowl sind«, sagte ich mit ernstem Gesicht in die Kameraobjektive. »Alex Cross wird sich ganz auf sein Spiel konzentrieren. Alles andere erledigt sich von selbst. Alex Cross möchte nur dem Allmächtigen dafür danken, daß er in diesem Endspiel steht.« Ich beugte mich zu der Reporterin, von der die Frage gekommen war. »Haben Sie mich verstanden? Ist jetzt alles klar?«
Sampson lächelte und sagte: »Was mich anlangt, ich stehe immer noch für großzügige Sponsorenangebote von Sportschuhfirmen und Limonadenherstellern zur Verfügung.«
Dann gingen wir die steile Steintreppe hinauf und betraten das Bundesgericht.
Als Sampson und ich in die höhlenartige Eingangshalle des Gerichtsgebäudes kamen, hätte der Geräuschpegel unseren Trommelfellen ernsthaften Schaden zufügen können. Alle drängelten und schoben, aber gewissermaßen zivilisiert, so wie einen Leute in Abendkleidung im Kennedy Center herumschubsen.
Der Fall Soneji/Murphy war nicht der erste Strafprozeß, bei dem Persönlichkeitsspaltung im Mittelpunkt der Verteidigung stand. Es war jedoch der bei weitem berühmteste Fall. Er hatte emotionale Fragen über Schuld und Unschuld aufgeworfen, und diese Fragen führten zu Zweifeln am Urteil … Falls Gary Murphy unschuldig war, wie konnte er dann wegen Kidnapping und Mord verurteilt werden? Sein Anwalt hatte uns allen diese Frage in den Kopf gesetzt.
Ich sah Nathan oben wieder. Er hatte bei seiner Vorstellung vor Gericht alles erreicht, was er gehofft hatte. »Es ist eindeutig, daß im Kopf des Angeklagten zwei Persönlichkeiten miteinander kämpfen«, hatte er während seines Plädoyers zu den Geschworenen gesagt. »Eine davon ist so unschuldig wie Sie. Sie können Gary Murphy nicht wegen Kidnapping oder Mord verurteilen. Gary Murphy ist ein guter Mensch. Gary Murphy ist Ehemann und Vater. Gary Murphy ist unschuldig!«
Es war ein schwieriges Problem und ein Dilemma für die Geschworenen. War Gary Soneji/Murphy ein hochintelligenter, bösartiger Soziopath? War er sich seiner Taten bewußt und hatte sie unter Kontrolle? Hatte es bei dem Kidnapping und dem Mord an mindestens einem Kind einen Komplizen gegeben? Oder war er von Anfang an ein Einzeltäter gewesen?
Niemand kannte die Wahrheit, Gary vielleicht ausgenommen. Nicht die psychologischen Sachverständigen. Nicht die Polizei. Nicht die Presse. Und nicht ich.
Wie würden jetzt die Geschworenen entscheiden, Leute wie Gary?
Das erste große Ereignis des Morgens war, daß Gary in den überfüllten, lauten Gerichtssaal geführt wurde. Er war sein übliches gepflegtes, auffällig jungenhaftes Selbst in einem schlichten blauen Anzug. Er sah aus, als arbeite er in einer Kleinstadtbank, nicht wie jemand, der wegen Kidnapping und Mord vor Gericht steht.
Vereinzelt wurde Beifall geklatscht. Offenbar haben heutzutage sogar Kidnapper Fangemeinden. Der Prozeß hatte eindeutig auch Spinner und krankhafte Typen angezogen.
»Wer sagt, daß Amerika keine Helden mehr hat?« sagte Sampson zu mir. »Die sind vernarrt in den verrückten Scheißer. Man kann es in ihren glänzenden Knopfaugen sehen. Er ist der neue Charlie Manson, bloß noch besser. Statt einem >
wahnsinnigen Hippie ein wahnsinniger Yuppie.«
»Lindberghs Sohn«, rief ich Sampson ins Gedächtnis. »Ich frage mich, ob er
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