Untitled
haben sie meinen Vater in den Garten gebracht.« »Nein. Jewgenij sagt nein, erschieß ihn nicht. In Gegenwart der Toten sind wir auch in der Gegenwart Gottes. Also haben sie ihn gefesselt.« »Wer?«
»Hoban hat seine Leute. Russen aus Rußland, Russen aus der Türkei. Schlechte Menschen. Ich kenne ihre Namen nicht. Manchmal schickt Jewgenij sie weg, aber dann vergißt er es wieder oder es tut ihm leid.«
»Und nachdem sie ihn gefesselt hatten? Was haben sie dann mit ihm gemacht?«
»Sie haben ihm Michail auf dem Tisch gezeigt. Sie haben ihm die Einschußlöcher gezeigt. Er wollte sich das nicht ansehen. Sie haben ihn gezwungen. Dann haben sie ihn zusammen mit einem Aufpasser in ein Zimmer gesteckt.«
»Unterm Dach steht ein Einzelbett«, sagte Aggie. »Es ist
durchnäßt.«
»Von Blut?«
Sie schüttelte naserümpfend den Kopf.
»Wie lange haben sie ihn in dem Zimmer eingesperrt?« fragte Oliver Zoya.
»Vielleicht eine Nacht, vielleicht länger. Vielleicht sechs, ich weiß es nicht. Hoban ist wie Macbeth. Er mordet den Schlaf.« »Wo ist er jetzt?« - er meinte seinen Vater.
»Hoban sagt die ganze Zeit: Ich bringe ihn um, laß mich ihn töten, er ist ein Verräter. Aber Jewgenij hat keinen Willen. Er ist vernichtet. ›Wir sollten ihn mitnehmen. Ich will mit ihm sprechen.‹ Sie bringen ihn nach unten. Jemand hat ihn geschlagen, vielleicht Hoban. Ich verbinde seine Wunden. Er ist so klein. Jewgenij hat zu seinen Ehren gesprochen. Wir nehmen dich auf eine Reise mit, wir haben ein Flugzeug gechartert, wir müssen Michail begraben, seine Leiche ist nicht hygienisch, du darfst keinen Widerstand leisten, du bist unser Gefangener, du mußt uns begleiten wie ein Mann, sonst erschießt dich Hoban oder wirft dich aus dem Flugzeug. Ich habe das nicht gehört. Hoban hat es mir erzählt. Vielleicht ist es eine Lüge.« »Wo ging das Flugzeug hin?«
»Nach Senaki in Georgien. Es ist ein Geheimnis. Sie begraben ihn in Bethlehem. Temur aus Titiis besorgt das. Es wird ein Doppelbegräbnis. Als Hoban Michail getötet hat, hat er auch Jewgenij getötet. Das ist normal.«
»Ich dachte, Jewgenij ist in Georgien nicht willkommen.« »Es ist gefährlich. Wenn er sich still verhält, wenn er der Mafia keine Konkurrenz macht, wird er toleriert. Wenn er viel Geld schicken können. Deshalb ist es gefährlich.« Sie stieß einen lauten Seufzer aus und schloß für einige Zeit die Augen, dann machte sie sie langsam wieder auf. »Bald ist Jewgenij tot, und dann ist Hoban der König von allem. Aber damit wird er nicht zufrieden sein. Solange es noch einen unschuldigen Menschen auf der Erde gibt, wird er nicht zufrieden sein.« Sie lächelte lieblich. »Also paß auf dich auf, Oliver. Du bist der letzte Unschuldige.«
Diese jähe Entspannung schien Oliver zu beleben, er stand auf, streckte sich grinsend, kratzte sich am Kopf, reckte die Arme, krümmte den Rücken und tat auch sonst alles, was er so tat, wenn er zu lange in einer bestimmten Haltung gesessen hatte oder an so viele Dinge auf einmal dachte, daß die Motoren in seinem Körper etwas Dampf ablassen mußten. Er stellte leichthin - ein paar Fragen, zum Beispiel nach Temurs Nachnamen, und ob sie noch wüßte, an welchem Tag genau sie geflogen waren? Und als er so umherging und ihre Antworten im Kopf notierte, konnte er nicht widerstehen, einen kleinen Ausflug zu der BMW im Nebenzimmer zu machen: Er hob die Schutzhülle an und bestaunte lächelnd die glänzenden Konturen der Maschine - und beobachtete gleichzeitig durch die Verbindungstür, daß Aggie in ihrem unermüdlichen Eifer seine Abwesenheit dazu nutzte, ihrer Patientin noch etwas mehr Suppe einzuflößen.
Er entzog sich ihrem Blick, trat rasch an eins der Terrassenfenster, packte den Messingknauf und drehte ihn, ganz leise und vorsichtig, bis der Verschluß entriegelt war. Dann drückte er die Türflügel einen Spaltbreit auf und stellte befriedigt fest, daß sie wie die Fenster im Salon zum Garten hin aufgingen. Und da überkam ihn ein fast unerträgliches Schuldgefühl, das ihn beinahe wieder in den Salon zurücktrieb, um entweder zu gestehen, was er getan hatte, oder Aggie aufzufordern, ihn zu begleiten. Aber er konnte weder das eine noch das andere tun, denn dann würde er sie nicht mehr beschützen können, und gerade das schien ihm in Anbetracht der Gefährlichkeit seines Unternehmens wichtiger als alles andere. Also sah er sich verstohlen wie ein Junge, der die Schule schwänzen will, noch einmal nach der
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