Untitled
isoliert, falls es das je getan hat«, erklärte sie mit der Festigkeit einer Schulleiterin, die ihren Absolventen einen Vortrag hält. »Die Einsätze sind heutzutage zu hoch, als daß man das Verbrechen den Verbrechern überlassen könnte. Wir haben es nicht mehr mit abenteuerlichen Außenseitern zu tun, die sich durch Ungeschicklichkeit oder Wiederholungstaten selbst ans Messer liefern. Wenn eine einzige, sicher in einen britischen Hafen gebrachte Containerladung Kokain hundert Millionen Pfund wert ist und der Hafenmeister ein Gehalt von vierzigtausend bezieht, müssen wir nur uns selbst befragen. Wie steht es mit der Fähigkeit des Hafenmeisters, einer derart unerhörten Versuchung zu widerstehen. Mit dem Vorgesetzten des Hafenmeisters. Mit der Hafenpolizei. Mit deren vorgesetzter Behörde. Mit dem Zoll. Und dessen vorgesetzten Behörden. Mit den Polizisten, Bankern, Anwälten und Verwaltungsbeamten, die ständig beide Augen zudrücken. Daß diese Leute ohne zentrale Leitung, ohne ein Kontrollsystem und ohne aktive Unterstützung von außen durch hochrangige Führungskräfte ihre gemeinsamen Anstrengungen koordinieren können, ist eine absurde Vorstellung. Und das bringt uns zur Hydra.« Es klickte von irgendwoher, und auf die Leinwand hinter ihr wurde das unvermeidliche Anschauungsmaterial projiziert: die Anatomie des britischen Staatskörpers, dargestellt wie ein Stammbaum. Darüber verstreut sah man die zahlreichen Köpfe der Hydra, die durch goldene Linien miteinander verbunden waren. Instinktiv suchte Brocks Blick die Londoner Polizei, über der wie eine arrogante römische Münze die kahle Silhouette Porlocks thronte; die goldenen Linien sprühten wie Fontänen aus ihm heraus. Geboren 1948 in Cardiff, rekapitulierte Brock: 1970 zur Kriminalpolizei in den West Midlands, Verweis wegen übertriebenem Diensteifer, soll heißen, er hatte Beweismittel gefälscht. Wegen Krankheit beurlaubt, dann versetzt und befördert. Seit 1978 bei der Hafenpolizei Liverpool, spektakuläre Überführung einer untauglichen Drogenbande, die so unklug gewesen war, mit einem etablierten Rivalen in Konkurrenz zu treten. Drei Tage nach Prozeßende zusammen mit den Anführern besagter Konkurrenzbande in vollbezahlten Urlaub nach Südspanien. Behauptet, dort wichtiges Material zur Aufklärung von Verbrechen gesammelt zu haben; Freispruch, Versetzung, Beförderung. 1985 Ermittlungen wegen angeblicher Vorteilsnahme von einem identifizierten Führer eines belgischen Drogenrings. Freispruch, Belobigung, Versetzung und Beförderung. 1992 Fotos in der britischen Boulevardpresse, die ihn in einem Teenielokal in Birmingham beim gemeinsamen Essen mit zwei Mitgliedern einer Gruppe illegaler serbischer Waffenbeschaffer zeigen. Bildunterschrift: »PORLOCK AUF ABWEGEN. Auf welcher Seite stehen Sie, Inspektor?« Nach einer Verleumdungsklage werden ihm fünfzigtausend Pfund zugesprochen; eine interne Untersuchung führt zu seinem Freispruch. Versetzung, Beförderung. Wie kannst du dir morgens im Spiegel nur in die Augen sehen? fragte Brock ihn in Gedanken. Antwort: Kein Problem. Wie schläfst du nachts? Antwort: Ausgezeichnet. Antwort: Ich habe eine Teflonhaut und das Gewissen eines Toten. Antwort: Ich verbrenne Akten, schüchtere Zeugen ein, kaufe mir Verbündete, gehe erhobenen Hauptes.
Die Versammlung endete, wie es bei solchen Versammlungen üblich ist, in einer Stimmung heiterer Verzweiflung. Einerseits fühlten sich die Kämpfer ermutigt: Alles war möglich, im Krieg gegen das Böse im Menschen war jedes Mittel erlaubt. Andererseits wußten sie aber auch, daß sie, selbst wenn sie tausend Jahre alt würden und alle ihre Anstrengungen erfolgreich wären, dem ewigen Feind bestenfalls ein paar kleine Fleischwunden zufügen konnten.
Oliver und Brock saßen in Liegestühlen im Garten hinter dem Haus in Camden unter einem bunten Sonnenschirm. Auf einem Tisch vor ihnen befand sich ein Tablett mit Tee und Keksen. Hübsches Porzellan, anständiger Tee, keine Teebeutel, niedrigstehende Frühlingssonne.
»In Teebeuteln ist doch nur Staub«, sagte Brock, der seine kleinen Marotten hatte. »Wenn man eine vernünftige Tasse Tee trinken will, muß man Blätter nehmen, keinen Staub.« Oliver hockte im Schatten des Sonnenschirms. Er trug noch, was er bei der Fahrt angehabt hatte: Jeans, Halbschuhe und einen saloppen blauen Anorak. Brock hatte einen albernen Strohhut auf, den die Mannschaft ihm am Vormittag im Camden Lock aus Spaß gekauft hatte. Oliver hatte
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