Untitled
Olivers. Mit einer von bösen Ahnungen getrübten Ehrfurcht sieht Oliver zu, wie Senatoren, Lobbyisten und Gesundheitsbeamte sich von den Überredungskünsten seines Vaters blenden lassen. Wenn man Tigers Werbesprüchen so zuhört, kommt man kaum auf die Idee, daß das Blut aus Rußland geliefert werden soll. Es stammt aus Europa, denn erstreckt sich Europa etwa nicht von der iberischen Halbinsel bis zum Ural -, es stammt aus dem Kaukasus, es stammt - und das bringt Olivers schwer angeschlagene Sensibilität noch mehr in Verlegenheit - aus dem weißen Kaukasus, und es ist mehr davon da, als Europa braucht. Im übrigen beschränkt er sich mit Bedacht auf so unverfängliche Themen wie Landerechte, Testverfahren, Lagerung, Steuerfreistellung, Weiterbeförderung oder die Einsetzung einer mobilen Krisenmannschaft zur Überwachung der Operation. Aber da nun die Ankunft des russischen Bluts gesichert ist - wie steht´s mit der Abreise?
»Wird Zeit, Jewgenij mal einen Besuch abzustatten«, entscheidet Tiger, und Oliver macht sich auf, seinen neuen Helden aufzustöbern.
Flughafen Scheremetjewo, Moskau 1991, ein herrlicher Sommernachmittag, Olivers erster Besuch bei Mütterchen Rußland. Angesichts der mürrischen Warteschlangen und der finsteren Wachtposten in der Ankunftshalle wird er Opfer einer sekundenlangen Beklommenheit, bis er Jewgenij selbst, in Begleitung einer Schar fügsamer Beamter, unter lauten Freudenrufen auf sich zulaufen sieht. Jewgenijs gewaltige Arme umschlingen Oliver, eine rauhe Wange preßt sich an die seine. Es riecht nach Knoblauch, dann schmeckt es danach, als der alte Mann einen dritten traditionellen Kuß auf Olivers verblüfften Mund preßt. Im Handumdrehen ist sein Paß gestempelt und sein Gepäck durch eine Nebentür verschwunden, und schon sitzen Oliver und Jewgenij im Fond eines schwarzen Zil, den niemand anders steuert als Jewgenijs Bruder Michail, der heute keinen knittrigen schwarzen Anzug trägt, sondern kniehohe Stiefel, eine militärische Reithose und eine Bomberjacke aus Leder, in der Oliver den schraffierten schwarzen Griff einer ziemlich großen Automatikpistole stecken sieht. Ein Polizeimotorrad fährt ihnen voraus, in einem Wolga folgen zwei dunkelhaarige Männer.
»Meine Kinder«, erklärt Jewgenij zwinkernd.
Doch Oliver weiß, daß er das nicht wörtlich meint, denn Jewgenij hat zu seinem Leidwesen keine Söhne, nur Töchter. Nachdem er sich dort angemeldet hat, fahren sie durch breite löchrige Straßen vorbei an gigantischen Wohnblöcken und gelangen in einen Vorort, wo die hinter Bäumen halb versteckten Villen von Überwachungskameras und uniformierten Polizisten beschützt werden. Vor ihnen schwingt ein Eisentor auf, die Eskorte bleibt zurück, sie kommen auf einen Kiesplatz vor einem efeubedeckten Wohnhaus, in dem das reine Chaos herrscht: kreischende Kinder, Babuschkas, Zigarettenrauch, klingelnde Telefone, übergroße Fernsehgeräte, eine Tischtennisplatte, alles in Betrieb und Bewegung. Schalwa der Anwalt begrüßt sie in der Eingangshalle. Dann werden vorgestellt: eine errötende Kusine namens Olga, »Mr. Jewgenijs persönliche Assistentin«; ein Neffe namens Igor, dick und lustig; Jewgenijs gütige und würdevolle georgische Frau Tinatin und drei - nein, vier Töchter, allesamt füllig, verheiratet und ein wenig müde, und die hübscheste und verlorenste von ihnen ist Zoya, die Oliver in schmerzlichem Wiedererkennen sogleich ins Herz schließt. Weibliche Neurosen sind seine Nemesis. Kommen dazu noch eine hübsche Taille, breite mütterliche Hüften und ein untröstlicher Blick aus braunen Augen, ist es um ihn geschehen. Sie wiegt einen Säugling in den Armen, Paul, der ihr an Schwermut nicht nachsteht. Zwei Augenpaare mustern ihn mit verzweifelter Komplizenschaft.
»Sie sind sehr schön«, bemerkt Zoya mit trauriger Stimme, als berichte sie von einem Todesfall. »Sie haben die Schönheit des Unebenmäßigen. Sind Sie Dichter?« »Nein, leider nur Anwalt.«
»Auch das Gesetz ist ein Traum. Sie sind hier, um unser Blut zu kaufen?«
»Ich bin hier, um Sie reich zu machen.«
»Willkommen«, intoniert sie mit der Tiefgründigkeit einer großen Tragödin.
Außer Dokumenten, die Jewgenij zur Unterschrift vorzulegen sind, hat Oliver einen persönlichen versiegelten Brief von Tiger mitgebracht, aber - »Noch nicht, noch nicht, zuerst müssen Sie mein Pferd sehen!« Und natürlich will er das! Jewgenijs Pferd ist ein Motorrad, eine nagelneue BMW, die verhätschelt und
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