Untitled
Milliarden machen, steckt er sie da rein. Frag seine Familie. Die sind schon alle in Panik.«
Tigers zahlreiche Ärzte haben ihm geraten, eine gleiche Menge Mineralwasser wie Wein zu trinken. Alvaro, der das weiß, stellt eine zweite Flasche Evian auf die rosa Damastdecke. »Und Hoban?« fragt Tiger. »Der ist doch in deinem Alter. Was ist das für einer? Hat er was drauf? Taugt er was in seinem Job?«
Oliver zögert. In der Regel kann er niemanden länger als ein paar Minuten unsympathisch finden, aber Hoban ist die Ausnahme. »Dazu kann ich kaum was sagen. Randy kennt ihn viel besser als ich. Mir kommt er wie ein Einzelgänger vor. Ein bißchen zu sehr auf seinen Vorteil aus. Aber in Ordnung. Auf seine Weise.«
»Randy erzählt, er ist mit Jewgenijs Lieblingstochter verheiratet.«
»Davon weiß ich nichts, daß Zoya sein Liebling ist«, protestiert Oliver nervös. »Er ist einfach ein stolzer Vater. Er hat alle seine Kinder gleich lieb.« Aber er beobachtet Tiger angespannt, wenn auch nur in den rosa Spiegeln an der Wand: Er weiß es, Hoban hat es ihm erzählt, er weiß von dem Brief und dem Herz aus Papier. Tiger nimmt ein Stück Ente, spült es mit einem Schluck Rotwein und einem Schluck Evian hinunter und küßt die Serviette.
»Sag mir bitte eins, Oliver. Hat Jewgenij jemals mit dir über seine Beziehungen zur Seefahrt geplaudert?«
»Nur daß er die Marineschule besucht hat und eine Zeitlang bei der russischen Marine war. Und daß ihm die See im Blut steckt. Genau wie die Berge.«
»Er hat dir gegenüber nie erwähnt, daß er mal die gesamte Handelsflotte auf dem Schwarzen Meer unter sich gehabt hat?« »Nein. Aber von Jewgenij erfährt man alles nur scheibchenweise, so wie er gerade Lust hat.«
Pause, in der Tiger einen dieser inneren Dialoge mit sich führt, die mit einer Entscheidung enden, aber die Gründe für diese Entscheidung nicht preisgeben. »Ja, gut, ich denke, wir sollten Randy noch ein Weilchen seinen Willen lassen, wenn du nichts dagegen hast. Du übernimmst dann wieder, wenn die Sache auf den Weg gebracht ist.« Vater und Sohn stehen auf dem Bürgersteig der South Adley Street und bewundern den Sternenhimmel. »Und kümmere dich um deine Nina, Junge«, empfiehlt Tiger ernst. »Kat hält große Stücke auf sie. Ich auch.« Es vergeht noch ein Monat, und dann wird der Briefträger zu Massinghams unverhohlener Wut nach Istanbul geschickt, wo Jewgenij und Michail ihre Zelte aufgeschlagen haben.
9
Im trüben Licht eines feuchten türkischen Winters wirkt Jewgenij so blaß und grau wie die Moscheen um ihn herum. Er umarmt Oliver mit der Hälfte seiner alten Kraft, liest Tigers Brief mit Widerwillen und reicht ihn mit der Demut eines Verbannten an Michail weiter. Das in einem Vorort auf der asiatischen Seite von Istanbul gemietete Haus, noch unfertig, aber schon verfallen, liegt inmitten von Pfützen und verlassenem Baugerät und unfertigen Straßen, Supermärkten, Bankomaten, Tankstellen und Hähnchenbratereien, die allesamt leerstehen und still zum Teufel gehen, während betrügerische Bauunternehmer und frustrierte Mieter und sture ottomanische Bürokraten ihre Meinungsverschiedenheiten in irgendeinem uralten Gerichtsgebäude austragen, das in dieser schwülen, brüllenden, keuchenden, im Verkehr erstickenden Stadt von sechzehn Millionen Einwohnern auf unlösbare Prozesse spezialisiert ist, und sechzehn Millionen, das sind, wie Jewgenij unermüdlich wiederholt, viermal so viel wie die gesamte Einwohnerschaft seines geliebten Georgien. Bezaubernd wird die Stimmung nur ein einziges Mal, als die Freunde beim Verlöschen des Tageslichts unter dem gewaltigen türkischen Himmel auf dem Balkon sitzen, Raki trinken und die unglaublichen Düfte von Jasmin und Limonen genießen, die sich irgendwie gegen den Gestank eines unfertigen Kanalisationssystems behaupten, während Tinatin ihren Mann nun schon zum hundertsten Mal daran erinnert, daß das da draußen das Schwarze Meer ist und Mingrelien direkt hinter der Grenze liegt - auch wenn diese Grenze achthundert gebirgige Meilen weit entfernt ist, die Straßen dorthin zu Zeiten kurdischer Aufstände unpassierbar sind, und kurdische Aufstände sind die Regel. Tinatin macht mingrelisches Essen, Michail macht mingrelische Musik auf einem alten Plattenspieler, mit dem man Achtundsiebziger abspielen kann, auf dem Eßtisch liegen vergilbende georgische Zeitungen ausgebreitet. Michail trägt eine Pistole in einem Schulterhalfter unter seiner weiten Weste
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