Untitled
Paul in Wien. Michail bringt hartgekochte Eier und gesalzenen Fisch. »Lernst du immer noch die Sprache der Götter, Briefträger?« »Allerdings«, antwortet Oliver unaufrichtig, weil er den alten Mann nicht enttäuschen möchte, und nimmt sich vor, den furchtbaren Kavallerieoffizier anzurufen, sobald er wieder in London ist.
Jewgenij nimmt Tigers Brief entgegen und gibt ihn ungeöffnet an Michail weiter. Im Flur stapeln sich Koffer und Kisten bis an die Decke. Man habe ein neues Haus gefunden, erklärt Jewgenij im Tonfall eines Mannes, der sich höherer Gewalt unterwirft. Etwas, das künftigen Erfordernissen besser
»Kaufst du dir ein neues Motorrad?« fragt Oliver, um ein
positiveres Thema anzuschlagen.
»Soll ich?«
»Aber natürlich!«
»Dann kaufe ich mir ein neues Motorrad. Vielleicht nehme ich gleich sechs.«
Und dann beginnt er zu Olivers Entsetzen zu weinen, ballt die Fäuste vorm Gesicht zusammen und weint lange und lautlos vor sich hin.
Es ist schrecklich, daß du kein Feigling bist, schreibt Zoya in einem Brief, der ihn im Hotel erwartet. Nichts kann dich brechen. Du wirst uns mit deiner Höflichkeit töten. Mach dir nicht vor, daß du die Wahrheit nicht wissen kannst.
Heiligabendparty im Hause Single. Im Börsenhandelsraum hat man alles, was beweglich ist, an die Wände geschoben. Moderne Musik, die Tiger an jedem anderen Tag des Jahres verabscheut, wird jeden Augenblick aus den Lautsprechern losjaulen, edler Champagner fließt in Strömen, es gibt Berge von Hummer, Gänseleberpastete und einen Fünf-Kilo-Eimer Imperial-Kaviar, der Randy Massinghams amüsanter Ansprache zufolge »inoffiziell« von Kunden des Hauses Single »geangelt« worden sei, die »Verbindungen zum Kaspischen Meer« hätten, »wo jungfräuliche Störweibchen die Beine zusammenklemmen, um uns diese köstlichen kleinen Eier zu schenken«. Die Wertpapierhändler jubeln, ein wiedererwachter Tiger jubelt mit ihnen, richtet seine Krawatte und tritt aufs Podium, um seine alljährliche mitreißende Rede zu halten. Das Haus Single, teilt er den begeisterten Zuhörern mit, ist heute in einer stärkeren Position als jemals zuvor in seiner Geschichte. Die Musik brüllt los, die ersten Genießer nähern sich dem Tisch, um einen frugalen Löffel aus dem Eimer zu schöpfen, als Oliver unauffällig die Hintertreppe hinaufsteigt, an seiner angestammten Rechtsabteilung vorbeigeht und schließlich den Tresor erreicht, von dem er und Tiger als Partner allein die Kombination kennen. Zwanzig Minuten später ist er wieder zurück und schützt vorübergehendes Unwohlsein vor. Dabei ist ihm wirklich schlecht, nur daß der Magen am allerwenigsten davon betroffen ist. Ihm ist so schlecht, wie man es nur erlebt, wenn ein Alptraum Wirklichkeit wird. Ihm ist schlecht von den ungeheuerlichen Geldbeträgen, die so hastig, so schnell versteckt worden sind, daß sie nur aus einer einzigen Quelle stammen können. Zweiundzwanzig Millionen Dollar aus Marbella. Fünfunddreißig aus Marseille. Einhundertundsieben Millionen Pfund aus Liverpool. Einhundertundachtzig Millionen Dollar aus Danzig, Hamburg und Rotterdam, in bar, die auf die Dienste der Wäscherei Single warten.
»Liebst du deinen Vater, Briefträger?«
Abenddämmerung, Zeit zum Philosophieren im Wohnzimmer der neu eingerichteten 20-Millionen-Dollar-Villa am europäischen Ufer des Bosporus, wohin es die Brüder nun geschafft haben. Majestätische Karelka-Möbel von Katharina der Großen, dieselben kostbaren goldbraunen Kredenzen, Eckschränke, der Eßtisch und die Stühle, die in den Tagen von Olivers Unschuld die Villa außerhalb von Moskau geschmückt hatten, stehen im Parterre herum und warten auf ein Zuhause. Russische Schneelandschaften mit Pferdeschlitten stehen Schlange, um einen Platz an den frisch gestrichenen Wänden zu ergattern. Und im Salon glänzt die prächtigste BMW, die man für heißes Geld kaufen kann.
»Steig auf, Briefträger! Steig auf!«
Doch aus irgendeinem Grund hat Oliver keine Lust. Jewgenij auch nicht. Feuchter, ungewöhnlicher Schnee bedeckt den abfallenden Garten. Auf der Meerenge liefern sich Frachter, Fähren und Vergnügungsboote dicht an dicht ein ständiges Duell. Ja, ich liebe meinen Vater, gibt Oliver Jewgenij vage zur Antwort. Zoya steht an der Terrassentür, sie hat Paul an der Schulter und wiegt ihn in den Schlaf. Tinatin hat den Kachelofen angezündet und döst nachdenklich daneben in ihrem Schaukelstuhl. Hoban ist wieder einmal in Wien, wo er ein neues Büro
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