Untreu
ihr jedes Mal genau erklären, was er gut und schlecht an einem Film findet und warum. Er weiß so viel. Sie lernt von ihm mehr, als sie je in der Schule lernen könnte.
Maria ist am Gartentor angekommen. Sie nimmt die Walkman-Ohrstöpsel heraus und lauscht einen Moment lang in die plötzliche Totenstille. Es dauert einen Moment, bis sie wieder das leise Rauschen der Blätter wahrnimmt, das Gezwitscher der Vögel, das Bremsen eines Autos am anderen Ende der Straße. Sie greift über das niedrige Tor und drückt auf den elektrischen Öffner. Ein leises Summen ertönt, sie stößt mit der Hüfte gegen die schwarzen Metallstreben, und das Tor schwingt gemächlich auf. Die Gummisohlen ihrer Nikes schlucken jeden Laut, als sie über die rostroten Terrakottafliesen zum Haus läuft, die Schultasche lässig über die rechte Schulter geworfen. Überrascht stellt sie fest, dass die Tür einen Spalt weit offen steht. Innen hört sie ihre Mutter telefonieren.
Aber anders als sonst. Ihre Stimme klingt leise und bedrückt.
Maria ist nicht neugierig. In ihrem Alter interessiert man sich nicht für die Gefühle seiner Eltern. Aber es gibt dennoch einen Moment, in dem sie in Versuchung gerät, ihr Ohr ans Arbeitszimmer ihrer Mutter zu legen. Bevor sie das tun kann, bricht das Gespräch ab. Ein kurzes Piepsen signalisiert, dass das Telefon ausgeschaltet wird. Maria zuckt die Schultern und geht in die Küche.
Ihre Mutter hat gekocht. Es riecht nach Ratatouille mit Tomaten, Zucchini, Auberginen - und bestimmt keinem Gramm Fleisch. Wegen BSE. Nur bei ihr zu Hause wird noch ein derartiger Zirkus um BSE gemacht. Am liebsten würde ihre Mutter nicht nur Rindfleisch, sondern auch jede andere Fleischsorte vom Speiseplan streichen, wenn nicht Maria und ihr Vater ab und zu darauf bestehen würden. Ihre Mutter redet dann von Kadavern, die zu Tiermehl verarbeitet werden, qualvollen Schlachttier-Transporten und zugefütterten Antibiotika, die krank machen und gefährliche Resistenzen auslösen können. Schon längst haben Maria und ihr Vater gelernt, diese Litaneien an sich vorüberziehen zu lassen.
Man stirbt immer an irgendwas, sagt ihr Vater. Das Leben führt konsequent zum Tod. Und warum wohl, führt er bei solchen Gelegenheiten weiter aus, steigt unsere statistische Lebenserwartung immer weiter, wenn doch angeblich unsere Ernährung so schädlich und ungesund ist? Da kann doch etwas nicht stimmen, was meinst du?
Solche Argumente, vorgebracht in ruhigem Ton und mit leisem Lächeln, setzen ihre Mutter regelmäßig matt. Und Maria ist dann hin- und hergerissen zwischen Mitleid mit ihrer Mutter und der Bewunderung für die glasklare Rhetorik ihres Vaters. Er gewinnt immer bei Diskussionen, ohne jemals unhöflich zu werden, und Maria hat den Ehrgeiz, einmal so gut zu werden wie er.
Ihre Mutter betritt die Küche, während Maria einen Blick in die Kasserole wirft, in der das Essen leise vor sich hin köchelt. Sie ignoriert absichtlich, dass ihre Mutter ihr von hinten die Hand auf die Schulter legt. Ihr Körper versteift sich, ohne dass sie etwas daran ändern könnte. In letzter Zeit hat sie etwas dagegen, angefasst zu werden.
»Wie geht's dir, Puppe? Wie war die Schule?«
»Cool. Kannst du aufhören, mich Puppe zu nennen? Bitte.«
Sie sagt das nicht zum ersten Mal. Sie hat diesen Spitznamen einmal gemocht, aber jetzt nicht mehr. Die Mutter nimmt die Hand von ihrer Schulter.
»Entschuldige, ich vergess das immer. Willst du essen?«
Maria dreht sich um. Sie hat ein schlechtes Gewissen. Ihr ist klar, dass sie ihre Mutter in letzter Zeit andauernd zurückweist. Sie hatten früher ein verschmustes, zärtliches Verhältnis, aber Maria kann das im Moment nicht aufrechterhalten. Vielleicht nie wieder. Sie würde gern erklären, warum nicht, aber sie weiß es selbst nicht...
Sie weiß es nicht. Etwas hat sich verändert, und sie kann es nicht rückgängig machen.
Die Mutter wirkt blass unter ihrer leichten Sonnenbräune, auf ihrer Stirn stehen winzige Schweißtropfen.
»Bist du krank?«, fragt Maria. Aber selbst diese Frage klingt nicht besorgt, sondern gereizt, und das wiederum tut ihr schon eine Sekunde später Leid. Die Mutter hat ihr nichts getan, sie ist immer nett zu ihr. Und trotzdem gibt es diesen Impuls, ihr wehzutun.
»Mit wem hast du telefoniert?« Sie bemüht sich, Interesse zu zeigen, ihren unfreundlichen Ton wieder gutzumachen. In der Regel funktioniert das, aber diesmal nicht. Überrascht sieht Maria, wie sich ihre Mutter mit
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