Untreu
dann gemeinsam von allem Aufgetragenen.
Gestern waren wir wieder dort. Du hast mich unter dem Tisch angefasst, und diesmal schob ich deine Hand weg, denn es waren einige Gäste da, die meisten Männer, und ich hatte ohnehin schon das Gefühl, dass wir ungut auffielen.
Ich schob also deine Hand weg, und du legtest sie wieder hin. So als hätte ich gar nichts getan. Ich küsste dich auf den Mund und nahm ein zweites Mal deine Hand von meinem Schenkel. Du hast gelächelt, aber da war etwas in deinem Blick, das ich nicht mochte. Schließlich ließ ich dich gewähren und tat so, als machte es mir Spaß. Aber so war es nicht, und ich will, dass du das weißt. Ich habe es nur getan, um kein Aufsehen zu erregen.
Unsere Liebe hat dadurch ihre Unschuld verloren. Du verstehst das wahrscheinlich nicht, aber so empfinde ich das. Es ist nicht schlimm. Es ist bestimmt normal.
Theresa Leitner wohnte im Westend, nicht weit vom alten Messegelände entfernt. Das Haus, ein Altbau, sah außen baufällig aus und innen verwahrlost. Die Briefkästen im Eingangsbereich waren zum Teil aufgebogen, zum Teil kaputtgeschlagen und meist ohne Namensschilder. Der Lift funktionierte nicht, das Treppenhaus war fensterlos und düster. Spekulantenware, dachte Mona, als sie zu Fuß in den dritten Stock stieg. Die Besitzer warteten ab, bis der letzte Bewohner gestorben, weggezogen oder herausgeklagt war, und dann konnte die Luxusrenovierung beginnen. Früher einmal hätte es vehemente Proteste dagegen gegeben. Heute fanden sich die Leute mit allem ab.
In der Mitte von Theresa Leitners Tür prangte ein Blatt Papier mit einer Kinderzeichnung, die einen Regenbogen in blassen Wachsmalkreidefarben zeigte. Die Tür selbst war vor Jahren einmal dunkelbraun gestrichen worden. Jetzt blätterte an zahllosen Stellen die Farbe ab und ergab bizarre Muster aus dunkelbraunen und rostroten Streifen. Mona klingelte. Nach ein paar Sekunden hörte sie leise knarzende Schritte, als schliche jemand heimlich zur Tür. Der Spion blitzte kurz auf.
»Seiler, Kriminalpolizei. Wir haben gestern telefoniert.«
»Ja. Moment.«
Das Geräusch eines Riegels, der mit Wucht zurückgeschoben wurde. Vor Mona stand eine mollige Frau, die aussah wie Mitte, Ende vierzig. Sie trug ein weites rotes Kleid aus einem orientalisch anmutenden Stoff und einen bunten Seidenschal um den Hals. Aus der Wohnung roch es nach abgebrannten Räucherstäbchen.
»Frau Leitner?«, fragte Mona.
»Ja. Kommen Sie rein.«
»Danke. Ich hoffe, Sie haben Zeit.«
»Jetzt schon. Um zwei muss ich Sie rausschmeißen, da fängt die Nachhilfestunde an.«
»Sie geben Nachhilfe?«
»In Deutsch. Acht Flüchtlingskindern aus dem Kosovo. Sie kommen hierher. Ich habe hier ein richtiges kleines Klassenzimmer.« Theresa Leitner ging durch einen kurzen, unbeleuchteten Gang voraus in eine geräumige Wohnküche.
»Möchten Sie etwas? Tee? Kaffee ist leider nicht da.«
»Vielen Dank, gar nichts.«
»Vielleicht eine heiße Schokolade? Tut doch gut bei dem Wetter.«
»Danke, wirklich nicht. Haben Sie eine freie Steckdose für das Aufnahmegerät?«
»Ja, gleich hier unten, neben der Tür.« Theresa Leitner setzte sich an den Tisch aus hellem Holz und schaltete eine kleine Stehlampe ein. Ihr Licht vermischte sich mit dem trüben Tageslicht, das aus einem hohen, schmalen Fenster in die Küche fiel, ohne den Raum nennenswert zu erhellen. Mona registrierte Küchenschränke aus beigefarbenen, billig aussehenden Pressspanplatten, einen alten Elektroherd neben einer verkratzten Spüle. Die Decke war mit dunkelbraunen Holzpaneelen abgehängt, die vergilbten Wände waren mit farbigen Tüchern drapiert.
»Seit zwei Wochen Regen«, sagte Theresa Leitner. »Es ist nicht auszuhalten. Immer diese schauderhafte Dunkelheit.« Ihr Gesicht war rund und weich, mit vollen blassen Wangen.
Mona bückte sich unter den Tisch und schob den Stecker in die Steckdose. »Sie haben mir am Telefon erzählt, dass Sie Karin Belolavek gut kennen«, sagte sie, nachdem sie das Gerät eingeschaltet hatte. Die muffig-ärmliche Umgebung schien ihre Stimme zu verschlucken, und sie räusperte sich unwillkürlich.
»Tut mir Leid, dass ich mich nicht eher gemeldet habe. Aber ich lese selten Zeitungen, und den Fernseher habe ich schon seit Jahren im Keller stehen. Deswegen wusste ich das mit Karin erst, als es mir jemand von der Gemeinde erzählt hat.«
»Gemeinde?«
»Von der Paulskirche gleich um die Ecke. Karin hat da ehrenamtlich mitgearbeitet.« Sie
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