Untreu
den Flur, die Küche, das Wohnzimmer. Man räumt Klamotten weg, man gibt die Wäsche in die Maschine. Und so weiter. Kein wirklich anstrengendes Leben, im Grunde leicht zu schaffen. Wenn da nicht dieses Wissen wäre, dass man all diese geistlosen, eingelernten Handgriffe am nächsten Tag wieder tun wird, und am übernächsten auch, und wahrscheinlich die nächsten zwanzig, dreißig Jahre lang, bei diesem oder einem anderen Mann. Karin hatte sich das so nicht vorgestellt. Keine Frau stellt sich das so vor, aber es passiert eben ganz oft, es ist wie ein weibliches Karma. Karin ist eine gebildete, intelligente Frau. Sie hat studiert, sie hat Pläne gehabt...«
»Berufliche Pläne?«
»Weiß ich nicht. So konkret haben wir nicht darüber gesprochen. Vielleicht.«
»Hat ihr Mann sie daran gehindert, ihren Plänen nachzugehen?«
Theresa Leitner sah sie mitleidig an. »Sie greifen nach jedem Strohhalm, was?«
»Wie meinen Sie das denn jetzt?«
»Thomas hatte seinen Job und abends seine Familie, und das reichte ihm. Er machte sich keine Gedanken, wie Karin den Tag herumbrachte. Es hat ihn nicht interessiert. Von ihm aus hätte sie auch Kisuaheli lernen können.«
»Es war ihm egal?«
»Wenn Karin gesagt hätte, hör mal, ich möchte einen Job annehmen, dann hätte er wahrscheinlich gesagt: Klar, wenn du das brauchst, warum nicht? Verstehen Sie? Ihr Problem war nicht, dass er sie unterdrückt oder eingesperrt hat, sondern dass sie nicht die Kraft hatte, irgendwas gegen seine geballte Gleichgültigkeit durchzusetzen. Gleichgültigkeit ist ja die schlimmste Sorte von Widerstand. Gleichgültigkeit ist wie Treibsand, in dem Hoffnung und Tatkraft verschwinden wie in einem Bermudadreieck. Und das Tückische ist, je mehr man dagegen ankämpft, desto schneller geht man selber unter. Haben Sie nie erlebt, wie das ist?«
»Nein.« Aber Mona wusste im selben Moment, dass das nicht wahr war.
»Niemand ist schuld, nur man selbst. Es gibt keinen Blaubart, der einen gefangen hält, keine böse Umwelt, die einem Steine in den Weg legt. Es gibt nur die eigene Trägheit, die sich einfach nicht überwinden lässt. Man fängt an, sich selbst zu verachten.«
»War das so bei ihr?«
»Ich war selber mal in dieser Lage. Ich habe erlebt, wie das ist, wenn man sich nichts mehr traut. Ich kenne das.«
»Hat Karin deshalb ehrenamtlich gearbeitet? Um aus diesem Kreislauf rauszukommen?«
»Sie hat es auch einfach gern getan. Sie ist gern unter Menschen, sie braucht das.«
»Sie haben mir am Telefon erzählt, dass sie einen Freund hatte. Eine Affäre. Wie ist es dazu gekommen?«
Theresa Leitner schwieg.
»Karins Freund? Was war das für ein Typ?« Wieder Schweigen. Leute sprachen gern über die Verfehlungen anderer, einige mussten allerdings ermutigt werden.
»Frau Leitner, leider müssen Sie diese Frage beantworten. Sie sind jetzt Teil der Ermittlungen.«
Theresa Leitner stützte ihr Kinn in die Hand. Schließlich sagte sie: »Er war sehr viel jünger als sie.«
»Ihr Freund?«
»Wirklich sehr viel jünger. Sie hat mir nicht genau gesagt, wie alt. Aber höchstens um die zwanzig.«
»Wie hat sie ihn kennen gelernt?«
»Darüber hat sie nie gesprochen. Ich weiß auch nicht, wie er heißt oder wo er wohnt.«
»Aber sie hat von ihm erzählt.«
»Vor ungefähr einem halben Jahr hat sie zum ersten Mal von ihm erzählt. Dass es schon länger mit ihnen beiden ginge, dass es eine große Liebe sei, nicht einfach nur ein Seitensprung. Solche Dinge.«
»Wusste ihr Mann davon?«
»Nein! Karin hatte große Angst, dass er es erfahren könnte.«
»Warum? Was hat sie befürchtet?«
Theresa Leitner lächelte. »Nicht, was Sie denken.«
»Was denke ich denn?«
»Dass er sie verprügelt oder misshandelt hat, oder so was, stimmt's? Nein. Karin hatte Angst, dass es zur Scheidung kommen und Thomas das Sorgerecht beantragen könnte.«
»Wann hat sie das letzte Mal von diesem jungen Mann gesprochen?«
»Nur noch ein einziges Mal, wenn ich mich richtig erinnere. Das war vor ungefähr drei, vier Monaten.«
»Wie fühlte sie sich da? Glücklich? Verzweifelt?«
»Ich hatte den Eindruck, sie war da viel tiefer drin, als sie wollte. Sie konnte das nicht mehr so einfach beenden, sie hatte gar keine echte Wahl mehr.«
»Das Ganze ist ihr entglitten.«
»Sie hat nicht gesagt, dass sie die Beziehung beenden will, das nicht. Sie liebte ihn. Aber das alles wurde ihr zu viel.«
Pfarrer Grimm war ein hoch gewachsener, schlanker Mann mit glatten
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