Untreu
Räder auf ihren alten Polo und fährt mit ihr in Gegenden, die Maria bislang nicht einmal vom Hörensagen kannte. Verzauberte Regionen voller natürlicher Magie. Kai scheint jeden Winkel zu kennen, und das seit langer Zeit. Sie muss nie nach dem Weg fragen und nie eine Karte konsultieren. Mit ihren Mountainbikes radeln sie an Wasserläufe, so entlegen, dass man sie erst sieht, wenn man schon fast hineingefallen ist, und zu geheimnisvoll modrigen Erdhöhlen, verdeckt von dichtem, dornigem Buschwerk.
Dort rufen sie Geister wie den Kobold Puka, der sich in Tiere verwandeln kann und auf diese Weise Menschen an der Nase herumführt. Sie kommunizieren mit Waldnymphen, die unsichtbar bleiben müssen, weil sie so schön sind, dass man ihnen sonst in die tiefsten Tiefen von Seen und Flüssen folgen würde. Die Natur, lehrt Kai Maria, ist voller Mysterien, die man nutzen kann. Sie bringt ihr bei, die flüsternden Stimmen der Geister aus dem Rauschen der Bäume, dem Windhauch über den Gräsern heraus zu filtern. Die Geister erzählen von jahrtausendealten Bräuchen im Reich zwischen der sichtbaren und der toten Welt, von gefährlichen Verstrickungen jener, die sich nicht an die Regeln dieses magischen Universums halten wollten, von verbotenen Lüsten und tödlicher Wissbegier.
Maria ist erst skeptisch, dann fasziniert. Sie glaubt die Geister zu hören und stellt ihnen Fragen über die Zukunft, die sie beantworten oder auch nicht. Ihre Fantasie treibt die üppigsten Blüten, und die Welt um sie herum, nicht nur die, die sie durch Kai kennen lernt, wird plötzlich farbig und spannend. Sie sieht und spürt Dinge, die normale Menschen nicht wahrnehmen. Sie hört Gedanken, die nicht die ihren sind. Sie durchschaut alle Lügen. Sie fühlt sich unbesiegbar.
Nachdem sie sich einen knappen Monat lang kennen, nimmt Kai sie zum ersten Mal zu einer Freundin mit. Bislang haben sie ihre Zeit zwischen Hausaufgaben und Abendessen immer nur zu zweit verbracht. Maria hat, wovon ihre Eltern nichts ahnen, die Kontakte zu all ihren anderen Freunden praktisch eingestellt. Es gibt niemanden, der sie so interessiert wie Kai. Es gibt niemanden, von dem sie so viel weiß und den sie andererseits so wenig kennt. Ohne Kai kann sie nicht mehr sein.
»Ich möchte dich jemandem vorstellen«, sagt Kai eines Tages. Sie sitzen in ihrem Auto, wie so oft, und Kai sieht Maria von der Fahrerseite aus forschend an, so als wollte sie sich noch einmal vergewissern, ob Maria es wirklich wert ist, eine Person kennen zu lernen, die ihr wichtig ist. Maria erwidert Kais Blick mit großen Augen. Sie ist nicht aufgeregt, nur gespannt auf das, was heute zum ersten Mal passieren wird. Nie in ihrem Leben hat sie sich so sicher und gut gefühlt wie in Kais Gegenwart. Kai scheint all ihre Gedanken zu akzeptieren und zu verstehen. Sie ist nie schockiert, nicht einmal über ihre abwegigsten Ideen.
Kai startet den Wagen ohne ein weiteres Wort. Niemand sieht sie und Maria, denn Kai parkt nie direkt vor Marias Haus, sondern immer eine Straße weiter. Kai will ihre Eltern nicht kennen lernen. Eltern sind in ihren Augen eine überflüssige Belastung, sobald man die Geschlechtsreife erreicht hat. Sie selbst spricht auch kaum über ihre Eltern. Es ist, als gäbe es sie nicht. Allerdings kennt Maria, die ihr einmal heimlich gefolgt ist, ihre Adresse: ein enttäuschend normales, sogar recht hübsches Haus im selben Viertel wie sie, nur zehn Radminuten von ihrem Zuhause entfernt. Im Garten schnitt ein Mann mit kräftigen grauen Haaren an einem Busch herum. Auf dem Türschild steht Lemberger.
Kai Lemberger. Maria würde ihr das nie erzählen. Es würde alles zerstören.
»Wo fahren wir hin?«, fragt sie, obwohl sie mittlerweile weiß, dass Kai solche Fragen nicht beantwortet. Kai sagt nichts, und sie sieht aus dem Fenster. Es ist ein windiger, sonniger Frühsommertag. Altes gelbes Laub vom letzten Herbst fegt über die Straßen der Siedlung. Marias letzte unbeschwerte Monate sind angebrochen, aber das ahnt sie noch nicht. Die Unglücksboten, das wird sie später sehen, stehen bereits vor der Tür, aber sie haben ihre Gesichter maskiert, und Maria erkennt sie nicht.
Sie fahren aus der Stadt hinaus in Richtung Norden. Kai sagt wenig, wie immer, wenn sie am Steuer sitzt. Maria ist das gewohnt, und dennoch vermisst sie zum ersten Mal während ihrer intensiven Bekanntschaft ihre anderen Freundinnen. Besonders an Jenna muss sie plötzlich denken. Jenna mit den dunklen Locken und dem
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