Untreu
Mundwerk, das nie stillsteht. Sie spielt keine Rolle mehr in Marias Leben, sie grüßen sich kaum noch. Von anderen hat Maria aber gehört, dass Jenna vielleicht nach diesem Schuljahr, also schon im kommenden Herbst, auf ein Internat gehen wird. Es hat ihr einen Stich versetzt, eine kleine, brennende Wunde, die sie beharrlich ignoriert.
Kai verlässt die Autobahn und folgt einer kleinen, schlecht geteerten Straße, die sich kilometerweit durch Maisfelder zieht. Die Landschaft wirft hier seltsam erstarrte Wellen, riesige Strommasten stehen mitten in den Feldern wie Mahnmale. Am Himmel türmen sich weiße Wolkengebirge, in der Ferne sieht man einen Gewitterguss niedergehen. Kai biegt auf einen schmalen, holprigen Feldweg ab. Sie fährt schnell und ohne Rücksicht, der schlecht gefederte Wagen hüpft über Stock und Stein, einmal stößt Maria mit dem Kopf beinahe an der Decke an.
Aber sie beschwert sich nicht. Das alles gehört zu ihrem Abenteuer.
Eine halbe Ewigkeit geht das so weiter, dann schließlich kommen sie an einem baufällig aussehenden Holzhaus vorbei. Kai schlägt scharf rechts ein, und sie bleiben abrupt auf einer ungepflegten Grasfläche voller Maulwurfshügel stehen. »Wir sind da«, sagt sie. Maria antwortet nicht. Eine leichte Übelkeit hat von ihr Besitz ergriffen. Sie öffnet mit zitternden Händen die Beifahrertür und steigt aus.
Draußen greift kühler Wind nach ihren Haaren. Sie nimmt sich eine Strickjacke aus dem Fond des Wagens und hüllt sich hinein. Dann schlägt sie die Tür zu und sieht sich suchend um. Kai hat nicht auf sie gewartet, sondern befindet sich bereits auf dem Weg zum Haus. Maria folgt ihr, ohne nachzudenken. Sie ist Kais wegen hier, sie wird wissen, was zu tun ist.
Das Haus ist in besserem Zustand, als es vom Auto aus wirkte. Es ist zwar alt, aber es sieht bewohnbar aus. Das Holz der Wände ist grau und verwittert, aber intakt. Maria holt Kai kurz vor der Tür ein. Kai beachtet sie nicht, sondern betätigt einen glänzend polierten Messingklopfer. Das laute Pochen lässt die schwere Tür erzittern und scheint sich bis ins Innere des Hauses fortzupflanzen.
Nach ein paar Sekunden öffnet ihnen eine sehr schlanke Frau, die vielleicht dreißig oder noch älter ist. Sie trägt Jeans, ein langes schwarzes Hemd und darüber einen breiten Ledergürtel mit einer großen, mit türkisfarbenen Steinen besetzten Silberschnalle. Sie hat brennend rot gefärbte kurze Haare. Aber das Auffälligste an ihr sind die Augen. Sie sind groß, umrahmt von Kajal und schwarz getuschten Wimpern und von einem so hellen Blau, dass ihr Blick wie der einer Blinden wirkt: leer und gleichzeitig unangenehm stechend.
»Kommt rein«, sagt sie zur Begrüßung. Sie umarmt Kai und übersieht Maria.
»Stören wir dich?«, fragt Kai.
»Nein.« Sie geht voraus in ein geräumiges Zimmer voller Kissen und Polster. Es gibt einen niedrigen braunen Holztisch voller Schnitzereien, aber keinen Stuhl. Die Überzüge sind orientalisch gemustert, die Fenster halb zugehängt mit silbrig durchwirkten Tüchern.
»Setzt euch«, sagt die Frau und nimmt eine Teekanne vom Tisch. Noch immer hat sie Maria nicht angesehen. Kai tritt neben Maria und nimmt sie am Arm. »Leila?«
Die Frau dreht sich um, mit unwilligem Gesichtsausdruck.
»Leila, das ist Maria, meine Freundin. Maria - Leila.« Maria sagt leise »Hallo, Leila« und lächelt sie an. Ihr ist völlig egal, ob diese Vogelscheuche sie mag oder nicht, aber sie spürt, dass Kai die Sache wichtig ist.
»Hi«, sagt Leila, die Teekanne in der Hand. »Was will sie hier?«, fragt sie, an Kai gewandt.
»Sie hat Power«, sagt Kai.
Farkas sah nicht so aus, als ob ihn die Nacht im Gefängnis mürbe gemacht hätte. Ein Beamter in Uniform brachte ihn ins Vernehmungszimmer, wo Mona, Bauer, Fischer und im Hintergrund eine Protokollantin warteten. Farkas setzte sich mit einer so ungezwungenen Miene auf den ihm zugewiesenen Stuhl, als sei er zu Kaffee und Kuchen eingeladen. Kein Schatten eines Vierundzwanzig-Stunden-Bartes, keine trüben Augen, die von schlechtem Schlaf auf einem engen, harten Pritschenbett zeugten. Stattdessen wirkte er so frisch wie nach einer ausgiebigen Dusche und einer gründlichen Rasur.
»Ich will einen Anwalt«, sagte Farkas, kaum dass er Platz genommen hatte.
»Kein Problem«, sagte Mona. »Sie haben das Recht auf einen Pflichtverteidiger, der Ihre Interessen wahrnimmt. Oder wollen Sie Ihren eigenen Anwalt verständigen?«
Farkas zögerte. Natürlich war
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