Unvergessen wie Dein Kuss
angehörte. Durch die geschlossenen Lider bemerkte er die Helligkeit, wollte die Augen aber gar nicht öffnen, um sich dem Tag zu stellen. Er musste Isabella sagen, dass er all die schrecklichen Dinge, die er ihr entgegengeschleudert hatte, und all die Verdächtigungen bereute. Er wollte ihr sagen, dass er verstanden hatte, wie schmerzlich es für sie gewesen sein musste, diese unmögliche Entscheidung zwischen Familie und Liebe zu treffen.
Marcus griff neben sich. Der Platz war leer.
“Heißes Wasser, Mylord.”
Er öffnete die Augen. Am Fußende des Bettes stand Belton mit einem Wasserkrug in der Hand und einem Handtuch über dem Arm. Sein Gesichtsausdruck war nichtssagend höflich.
Marcus richtete sich schnell auf. “Isabella … wo ist sie?”
Beltons Augenbrauen zuckten kaum wahrnehmbar. “Ihre Ladyschaft ist gegangen, Mylord.”
“Gegangen?”
Marcus sah sich verzweifelt um, als ob er erwartete, dass Isabella sich hinter den Bettvorhängen versteckt hielt.
“Fortgegangen, Mylord”, fügte Belton ernst hinzu. “Ihre Ladyschaft bestand darauf, Sie nicht zu wecken.”
Marcus unterdrückte einen Fluch. In seinem eigenen Glück befangen, hatte er gedacht, er habe sie ebenfalls glücklich gemacht. Er hatte so gewünscht, dass sie dieselbe überwältigende Lust empfinden sollte, die ihn ergriffen hatte. Aber vielleicht … hatte er in seinem selbstsüchtigen Vergnügen überhaupt nicht bemerkt, dass ihr Innerstes unberührt geblieben war. Vielleicht hatte er nur ihren Körper genommen, und ihre Seele war ihm wiederum entglitten. Er fühlte sich elend und kalt, und plötzlich ergriff ihn Angst.
Belton hatte sich abgewandt und war dabei, Wasser in die Schüssel auf dem Waschtisch zu gießen. Trotz des Dröhnens in seinen Ohren hörte Marcus das Geräusch des fließenden Wassers und sah, wie Belton sorgfältig einen danebengegangenen Tropfen aufwischte. Marcus sprang aus dem Bett und fasste den Butler am Arm.
“Wohin ist Fürstin Isabella gegangen?”
Belton wandte sich langsam um. Sein Gesichtsausdruck war immer noch nichtssagend.
“Ihre Ladyschaft hat London verlassen, Mylord.”
Er schüttelte Beltons Arm. “Wann? Wann ist sie gegangen?”
“Bei Tagesanbruch, Mylord.” Der Butler ahnte Marcus’ nächste Frage, noch ehe er sie vollständig im Sinn hatte. “Es ist jetzt zehn Uhr, Mylord.”
Zehn Uhr. Die Zeitangaben schwammen wie Fische durch Marcus’ Sinn. Im Sommer war Tagesanbruch etwa halb fünf, auf keinen Fall später als fünf. Nach fünf Stunden auf der Flucht konnte Isabella jetzt sonst wo sein. Sie war sicher so weit von ihm entfernt wie nur irgend möglich.
Belton stand kerzengerade wie ein Soldat im Dienst. Marcus blickte nach unten, und es durchfuhr ihn plötzlich, dass er ganz nackt war. Er ließ Beltons Arm los.
“Danke, Belton”, sagte er nur.
“Gern geschehen, Mylord”, antwortete der Butler. Nach einem Augenblick fuhr er fort: “Da ist eine Nachricht, Mylord.”
Eine Nachricht.
Marcus wurde von einer trügerischen Hoffnung erfasst.
“Wo?”
Belton deutete auf den kleinen Tisch neben dem Bett.
Marcus nahm den Zettel auf und faltete ihn auseinander. Wie durch einen Schleier nahm er wahr, dass seine Hände zitterten.
Stockhaven
,
ich bin nach Salterton gegangen. Du hast deine Hochzeitsnacht gehabt. Nun vertraue ich darauf, dass du mir meine Freiheit gibst.
I. S.
Das war alles. Marcus drehte das Blatt um, um sicherzugehen. Die plötzlich wieder aufgerissene Distanz zwischen ihnen presste ihm das Herz zusammen. Beim Einschlafen war er ihr näher gewesen als jemals zuvor in seinem Leben. Isabella hingegen hatte nur die Morgendämmerung abgewartet, damit sie ihn verlassen konnte.
Er dachte an den erbarmungslosen Hagel von Anschuldigungen, den er auf ihr hatte niederregnen lassen, und die Art und Weise, wie er versucht hatte, ihren freien Geist zu zähmen. Die ausgesprochene Grausamkeit dieses Vorgehens ließ ihn erschaudern. Er stützte den Kopf in die Hände.
“Möchten Sie eine Rasur, Mylord?”, fragte Belton.
“Nein danke”, antwortete Marcus fast automatisch.
“Kleidung, Mylord?” In Beltons Stimme lag jetzt eine Spur von Missbilligung.
“Ja bitte.” Auch diese Antwort kam wieder fast von selbst.
“Ein Pferd, Mylord?” Jetzt enthielt Beltons Frage eine deutliche Botschaft. Marcus sah auf.
“Ein Pferd?”, wiederholte er erstaunt.
Beltons Blick war fast böse. “Ein
Pferd
, Mylord.”
Ein Hoffnungsschimmer blitzte in Marcus’ Augen auf.
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