Unvermeidlich
Er macht uns alle zu Menschen, die wir nicht sein wollen und eigentlich gar nicht sind. Ich weiß es zu schätzen, dass du mich verteidigen und beschützen willst, aber nicht um den Preis, dass du dich selbst verletzt.“
„Ich weiß nicht, was in mich gefahren ist. So wütend hat er mich schon lange nicht mehr gemacht. Ich glaube, er war ziemlich …“
„Er war was?“ Ich befürchte, ich kenne die Antwort, auch wenn ich es vorhin nicht erkennen konnte.
„Er war ziemlich high“, seufzt er und zuckt mit den Schultern. „Ich gehe davon aus, dass es nur Cannabis ist, aber davon mal wieder eine Menge.“
Das würde seine milde Reaktion auf Alex‘ Schlag erklären.
Zusammengesunken sitzt er neben mir. Nachdem er mich mit Wein und Tee versorgt hat, nippt er wortlos an einem Whisky. So niedergeschlagen habe ich ihn schon lange nicht mehr erlebt.
„Er driftet wieder völlig ab. Was sollen wir jetzt tun, Alex?“
Mit einem großen Schluck leert er den Inhalt seines Glases und stellt es unsanft auf dem Tisch ab. „Ich habe dermaßen die Schnauze voll von seinen Allüren und dem ständigen Drang, im Mittelpunkt zu stehen.“
„Das ist nichts Neues. Aber ist dir vielleicht entgangen, dass er uns erwischt hat?“
„Ist es ganz sicher nicht. Die Katze ist aus dem Sack. Keine Ahnung, was er damit anstellt.“
Seine Gleichgültigkeit in Bezug darauf macht mich etwas wütend.
„Wie ich ihn kenne, wird er das an Anna auslassen. In welcher Form auch immer. Da ich mich ja ohnehin nicht um mein Kind kümmere und mich dafür lieber mit wechselnden Männern vergnüge.“
Alex greift mit seiner Hand an meinen Fuß, der zur Hälfte unter der Decke rausschaut. Mir ist nicht mehr kalt, aber unter der Decke fühle ich mich besser.
„Das ist Schwachsinn und du weißt es. Nur weil du nicht 24 Stunden am Tag auf deinem Kind gluckst, sondern arbeitest, bis vor kurzem studiert hast und ab und zu mal feiern gehst, bist du noch lange keine schlechte Mutter. Ich kann nicht fassen, dass du dir das gerade von ihm, dem Vater des Jahres, so zu Herzen nimmst.“
In der Theorie weiß ich das, aber was wäre Mutterschaft ohne eine gesunde Portion Schuldgefühle?
„Egal was seine Gründe sind, er kann so einfach nicht weitermachen.“
Der Abend hätte gut werden können, doch auf die eine oder andere Weise hat sich dieses Unwetter schon am See angekündigt.
„Im Augenblick kotzt mich am meisten an, dass er uns die Nacht versaut hat.“
Ihn sollte mehr nerven, dass wir aufgeflogen sind, aber ich sehe auch, wie kostbar unsere ungestörten Stunden sind.
15.
Meine Tochter ist vermutlich das einzige Kind, welches mit Freuden eine Kinderarztpraxis betritt. Das liegt aber nur daran, dass ihr liebster Onkel Jakob mit seinem Freund Paul die Praxis betreibt und sie den beiden bedingungslos vertraut. Heute sind wir außerdem auch nicht wegen ihr hier.
Da gerade die Mittagspause beginnt, geben wir uns mit Rita, eine der netten Arzthelferinnen, die Klinke in die Hand. Nachdem sie Anna begrüßt hat, wendet sie sich an mich.
„Keine gute Stimmung da drin“, warnt sie mich. „Die zwei haben sich schon den ganzen Morgen in den Haaren. Kindchen, frag mich nicht, warum, aber es geht wohl um Kati. Du weißt, ich misch mich nicht ein, ich wollte es nur gesagt haben.“
Rita ist eine der wenigen Personen außerhalb unserer Familie, die um die Beziehung der drei weiß.
„Danke, Rita“, sage ich und lege ihr eine Hand auf die Schulter. „Genau deswegen bin ich hier. Ich glaube, die beiden Doktoren brauchen einen kleinen Dämpfer.“
„Du bekommst das schon hin“, sagt sie mit einem wissenden Grinsen. „Die Praxis ist leer. Geh ruhig durch. Sie sind im Sprechzimmer.“
„Mama, kann ich im Wartezimmer auf dem Piratenschiff spielen?“
„Ich hab nichts dagegen, aber du solltest trotzdem erst Paul oder Jakob fragen.“
In den 15 Sekunden, die ich brauche, um mich von Rita zu verabschieden, ist Anna ins Sprechzimmer und zurück ins Wartezimmer geflitzt. Das war dann wohl eine positive Antwort.
Im Gegensatz zu meiner Tochter ziehe ich es vor, zuerst anzuklopfen, bevor ich den Raum betrete. Erfahrungsgemäß ist das die sicherere Lösung, da auch Jakob und Paul oft Schwierigkeiten haben, die Finger voneinander zu lassen.
Paul begrüßt mich mit einem Kuss auf die Wange und bietet mir einen Stuhl an. Mein Bruder steht mit nacktem Oberkörper in der Ecke, da er gerade von seiner OP-Kleidung in Jeans und
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