Unvermeidlich
die erste Träne, die er mit dem Daumen wegwischt. „Du bist durch den Wind. Das willst du nicht wirklich.“
„Doch, das will ich. Ich muss es wollen.“
„Musst du überhaupt nicht. Aber ich habe den Eindruck, dass du genau wegen diesem Moment nie deine Gefühle für mich klar ausgesprochen hast. Hast du gehofft, dass es dann einfacher wird?“
Er muss damit aufhören, sonst knicke ich ein.
„Es war ein Fehler, Alex. Bitte denk an Anna und geh.“
„Ich denke immer an Anna. Und ich denke immer an dich. Aber wann denkt Ela ein Mal an Ela?“
„Das habe ich in letzter Zeit viel zu oft gemacht. Genau deswegen ist das heute passiert.“
„So ein Schwachsinn.“ Er klingt resigniert. „Ich gehe jetzt. Aber es ist nicht vorbei. Ich weigere mich, das zu akzeptieren. Du bist nicht du selbst. Wir brauchen alle eine Mütze Schlaf und obwohl ich die wesentlich lieber mit dir in meinen Armen nehmen würde, werde ich nach Hause fahren. Aber morgen komme ich wieder und dann reden wir. Und ich meine, wirklich reden. Das haben wir schon viel zu lange vor uns hergeschoben. Ich hab dir ein paar Dinge zu sagen, aber dafür bist du gerade überhaupt nicht empfänglich.“
Ich sage nichts mehr. Er will es sowieso nicht hören. Ein letztes Mal nimmt er mich in die Arme. Ich rühre mich nicht vom Fleck, aber ich schiebe ihn auch nicht weg.
So habe ich mir unsere letzte Berührung nicht vorgestellt.
22.
Nach einigen, nicht aufschiebbaren Erledigungen am nächsten Morgen, habe ich eine große Tasche gepackt, die nächsten 2 Wochen mit Kati die Schichten neu organisiert und bin nun mit Anna auf dem Weg ans Meer. Der Zeitpunkt ist aufgrund des bevorstehenden Umbaus ungünstig, doch ich muss hier raus. Paul hat mir den Schlüssel zu seinem Haus überlassen und die drei haben mir versprochen, unsere Katze zu füttern und Alex nicht zu verraten, wo ich bin. Vielleicht kann er es sich denken, weil wir ursprünglich in einer Woche zusammen fahren wollten, doch im Augenblick ist es der einzig denkbare Fluchtpunkt.
Anna spürt, dass irgendetwas nicht richtig ist. Für einen kurzen Besuch bei Polizei und Jugendamt musste ich sie alleine bei Kati lassen, weil sie nicht mitbekommen sollte, was gestern tatsächlich passiert ist. Aber sie merkt, dass ich etwas auf dem Herzen habe. Da die Sache recht schnell aufgeklärt war, hat mir auch das Jugendamt davon abgeraten, wegen Kindesentführung Anzeige zu erstatten. Dafür wird die ganze Geschichte empfindliche Folgen auf sein Besuchsrecht haben. Ich weiß nicht, ob es der richtige Schritt ist, denn ich fühle mich nicht mehr sicher. Aber kann ich die Person sein, die ihm mit einer weiteren Vorstrafe den sicheren Tritt in den Knast verpasst?
Letzte Nacht habe ich neben ihr auf dem Boden des Kinderzimmers geschlafen. Natürlich erst, nachdem ich mich mehrfach abgesichert habe, dass die Haustür abgeschlossen und alle Fenster fest verriegelt sind. Ich habe immer noch panische Angst, dass er sie wieder holt und ich habe das Gefühl, dass von offizieller Stelle niemand etwas tun wird, um ihn abzuhalten. So fühlt sich also wahre Hilflosigkeit an.
Bei der Aussicht auf Strand und Meer ist Anna sofort dabei, auch wenn sie hinterfragt, warum ich ihr nicht früher davon erzählt habe. Bis vor ein paar Stunden wusste ich ja selbst nicht, dass wir fahren.
Sie ist außergewöhnlich still während der gesamten Fahrt und meckert nur einmal, als sie Pipi muss. Nachdem wir das an einer Raststätte erledigt und ich dort für uns noch je einen Kakao gekauft habe, höre ich bis zu Pauls Ferienhaus in Cadzand nichts mehr. Zwischendurch nickt sie ein, aber die meiste Zeit schaut sie einfach nur aus dem Fenster.
Den Klingelton meines Handys habe ich abgestellt, doch es vibriert unaufhörlich in meiner Hosentasche. Alex versucht verzweifelt, mich zu erreichen, aber ich kann jetzt nicht mit ihm reden. Ich wünschte, ich könnte das Telefon komplett abstellen, aber das wäre meiner Familie gegenüber nicht fair.
Nach einem kleinen Zwischenstopp im Supermarkt erreichen wir am frühen Abend das Ferienhaus. Die letzten Strandbesucher machen sich auf den Heimweg und klettern über die Dünen zu dem wenige Meter entfernten Parkplatz. Das Haus liegt direkt am Fuß der Dünen. Wir müssen nur eine kurze Treppe hoch und schon sind wir am Strand.
Das hier soll eine Auszeit vom Alltagsstress sein, also fangen wir sofort damit an.
„Hilfst du mir, die Einkäufe reinzutragen?“, frage
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