Unzeitgemäße Gedanken: Tagebücher 2 (German Edition)
wir sprechen Französisch, damit uns die Paralytiker in den Nachbarbetten nicht verstehen. Sie ist nicht sentimental, bemitleidet sich nicht. Vielmehr zeigt sie sich klug, überlegen, stark. Spricht davon, dass ich doch über die amerikanische Mission einen Brief an ihre Freunde in Übersee schicken solle, weil sie dann gewiss fünfzig Dollar bekäme. »Wie viel ist das heute?«, fragt sie. Ich antworte aufs Geratewohl: »Fünfzigtausend Pengő.« Sie seufzt erleichtert auf. »Dann bin ich gerettet«, sagt sie. »Lange werde ich nicht mehr leben, für diese paar Monate wird das Geld schon reichen.«
Ihre kluge Kraft erschüttert mich. In diesem Asyl für unheilbar Kranke benimmt sie sich mit einer menschlichen, gesellschaftlichen Sicherheit wie eine große Dame im Salon. »Aber die Belagerung«, sagt sie, »weißt du, die war schrecklich. Ich bin um zehn Jahre gealtert«, sagt sie. Damit wäre sie jetzt sechsundneunzig.
Ich habe ihr Wein und Biskuits mitgebracht; gierig greift sie danach. »Der Wein ist wunderbar«, sagt sie. »So ist er am besten.« Und schon trinkt sie mit kleinen Schlucken und taucht ein Biskuit ein. Der Besuch stärkt mich in meinem Glauben, dass die Seele und der Charakter über allem stehen.
Im Morgengrauen breche ich nach Budapest auf. Der Garten liegt noch im Dunkeln. Über der Donau die Sichel des Mondes. Das Wasser glänzt in der Dunkelheit, es schimmert wie Quecksilber. Ein phantastisches Fest ist die Welt. Sie kann mich nicht besänftigen, doch gibt sie mir – für Momente – ein Lebensgefühl, das mit nichts zu vergleichen ist.
Der kleine Junge bekam Besuch von seiner Großmutter – und das hat ihn sehr aufgeregt. Er ist traurig und hat Heimweh. Er will um jeden Preis »nach Hause«, nach Hause, nach Jászberény, wo ihn die Fürsorge im Alter von vier Monaten – also vor vier Jahren, als ihn seine Eltern weggaben – zu sechzigjährigen Bauersleuten gab, zu »Mama und Papa«, die ihn für Pflegegeld aufzogen. Doch sie waren gut zu ihm, und das Kind sehnt sich nach ihnen. Diese traurige Sehnsucht entwaffnet mich. Ich verspreche ihm, dass wir gemeinsam nach Jászberény fahren: Damit schläft er ein. Vier Jahre, das ist das Alter des Trotzes und der Fragen. Jeden Augenblick hat er eine Frage. Und ich kann nicht immer antworten. Sein Egoismus ist souverän, entwaffnend.
In der Schnellbahn lese ich die in dicken Lettern gesetzten und mit Paukenschlägen kundgemachten Nachrichten über die Atombombe und die Erklärungen Trumans und Churchills. Mein erstes Gefühl ist Angst. Das menschliche Gesindel ist der Möglichkeit zur Selbstzerstörung wieder ein Stück näher gekommen: So empfinde ich es. Bisher ist es immer so geschehen. Und sofort denke ich: die Schriftsteller, die Erzieher! Wenn sie jetzt das Wort ergreifen würden, mit derselben Lautstärke, in der die entfesselte Atomenergietönt! Wenn sie gegen den Hass, über das Erkennen und Ertragen der Wirklichkeit, über die falschen Anschuldigungen zu den Menschen sprechen würden! Nur das kann, vorübergehend, die Welt retten.
In den Mittagsausgaben dann die ersten detaillierteren Berichte über die Wirkung der neuen Bombe. Die Stadt Hiroshima ist von einer zweihundert Kilogramm schweren Bombe zerstört worden; die Atomladung darin betrug kaum anderthalb Kilo. Sechzig Prozent der Dreihunderttausend-Einwohner-Stadt wurden restlos vernichtet, anstelle der Häuser blieben nur Krater zurück. Die Bombe wird aus Uranerz hergestellt. Neergaard hat schon vor langer Zeit darüber geschrieben; Planck und Einstein sind ihre geistigen Urväter.
Diese Waffe darf nicht im Besitz eines einzigen Landes bleiben: Wie jede neue Waffe wird auch diese einen Wettlauf auslösen. Ein paar dieser Bomben genügen, um London vom Erdboden zu tilgen. Also wird irgendwann der Tag kommen, an dem London und das, was von Europa noch übrig ist, verschwinden werden. Das ist nicht »Politik« sondern ein Naturgesetz. Der Mensch spielt mit den Weltkräften, hat sein Schicksal heraufbeschworen, kann davor nicht flüchten.
Doch die Engländer sind in der Politik große Spieler! Churchill nimmt es hin, eine Wahl zu verlieren, wenn er ein solches Atout wie die Atombombe in der Hand hat! Und Attlee steht im Unterhaus auf und verliest Churchills Bericht über den Ursprung der Bombe … Und sie sitzen in Potsdam , verhandeln mit Stalin, und die Bombe steckt in ihrer Tasche! Teuflische Szenen auf der Weltbühne … Und das Ende kann nichts anderes sein als der völlige
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