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Unzeitgemäße Gedanken: Tagebücher 2 (German Edition)

Unzeitgemäße Gedanken: Tagebücher 2 (German Edition)

Titel: Unzeitgemäße Gedanken: Tagebücher 2 (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sándor Márai
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dass die ungarische Arbeiterschaft keine Gelegenheit hatte, bis heute jene Elite aus sich hervorzubringen, deren Bildungsniveau diese Gesellschaftsschicht schon jetzt zur ausschließlichen Führung prädestinieren würde. Die ungarische Arbeiterschaft ist insgesamt zweifelsohne die intelligenteste Schicht der ungarischen Gesellschaft – in Sachen Allgemeinbildung steht sie weit über dem Durchschnitt der Bauern und der Mittelschicht –, doch ihre soziale Lage und die Erziehungsmethoden haben es ihr nicht ermöglicht, sich zur Gänze eine Bildung anzueignen, die zur Führung berechtigt und verpflichtet. Sie muss zuerst jene unsichtbare Schule besuchen und absolvieren, von der die sichtbare Schule nur eine Klasse ist; die Arbeiterschaft ist dazu bereit, hat auch das entsprechende Talent – sie braucht jedoch noch viel Zeit und geeignete Lehrer.
    Derselbe Mechaniker hielt mir einen langen Vortrag über Privatbesitz. Was sich ein Mensch in der Sowjetunion mit Arbeit verdient, das gehört ihm; das darf ihm keiner wegnehmen; und wer es ihm nimmt, muss dafür büßen. Wenn eine Waise unversorgt bleibt, lässt sie der Staat bis zum achtzehnten Lebensjahr erziehen, dann wird sie zur Arbeit geschickt. Was Erbschaften angeht, kann man über sie nichts Verlässliches erfahren; der eine behauptet, Erbschaften gibt es nicht, der andere schwört darauf, dass es sie gibt.
    Aus allem, was sie erzählen, kann man erahnen, dass die Struktur der sowjetischen Gesellschaft sich in den vergangenen fünfundzwanzig Jahren stark in Richtung Demokratie entwickelt hat. Wahrscheinlich beschleunigt die Belastungsprobe des Krieges – das Zusammentreffen mit der westlichen Zivilisation, das Verlangen nach Entschädigung, das sich aus dem Bewusstsein der individuellen Opfer ergibt, und so weiter – diese Entwicklung.
    Andrei kommt aus Leningrad, er war in Friedenszeiten Sekretär einer Badeanstalt; eine leidenschaftliche, finstere und unruhige Gestalt. Er ist der Menagemeister; unter diesem Vorwand bricht er jede unbewohnte Villa auf und kommt mit Säcken voller Kleider und Lebensmittel der ungarischen Nazis, die nach Deutschland geflüchtet sind, zurück; vieles davon verteilt er an die Frauen aus dem Dorf, die er zum Arbeitsdienst holt, arbeiten lässt, um sie dann mit Fleisch, Schmalz und Brot zu bewirten. Er ist ein lautstarker Burschui-Hasser. In der Küche braucht man Zwiebeln, und er sagt in ganz natürlichem Ton zu einem der Mädchen: »Lauf zum Burschui hinüber, und hol Zwiebeln von ihm.« Der »Burschui« ist für diesen Russen ein Sammelbegriff, genau wie es der »Jude« vor einigen Wochen noch für die Ungarn war.
    Als er sich vorstellte, sagte er, er habe »zwölf Schulen« absolviert und wisse, was Literatur sei. Als ich anerkennend nickte, erwähnte er Lermontow, Gogol und andere Namen; er wisse, dass ich Schriftsteller sei, sagte er, und er wisse auch, dass uns jetzt Unrecht widerführe, weil in diesem kleinen Haus intelligente Leute lebten und weil sie mit der Einrichtung der Werkstätte unser Zuhause völlig verwüstet hätten; er wisse auch, dass man uns ausgeraubt habe; doch das sei eben woina , und nicht alle Russen seien so, und er möchte mich bitten, über die Russen nichts Schlechtes zu schreiben, wenn ich einmal all das niederschreiben würde. Mithilfe eines Dolmetschers erwiderte ich, ich wolle immer nur die Wahrheit niederschreiben und objektiv bleiben, und ich wisse, dass nicht alle Russen gleich seien. Dieses kleinere Unglück sei jetzt nun mal passiert, wir wollten nicht lamentieren, weil andere – auch die Russen – unvergleichlich viel mehr gelitten hätten. Er lauschte meinen Worten mit ernster Miene. Sagte noch, wenn Buda falle, würde er Verpflegungschef für ganz Buda sein.
    Im Dorf beschäftigt man sich dieser Tage mit einer Art Rundumdiebstahl. Die Russen nehmen mit, was sie können, die Ungarn stehlen, soweit es möglich ist, von den Russen zurück, und dann stehlen die Ungarn, sich auf die Russen ausredend, noch von den Ungarn, was sie erwischen können.
    Am Morgen ist in der Werkstattkammer eine Benzinlampe explodiert; drei Soldaten wurden verletzt, brennend und schreiend rannten sie durchs Haus: Einer erlitt Verletzungen im Gesicht, die anderen zwei an den Händen. Jetzt sind sie verarztet und liegen leise stöhnend, manchmal aufjaulend in der Mitte des Zimmers auf dem Boden. Ihre Kameraden sitzen wortlos um sie herum und hören Musik aus dem Grammofon.
    Diese Menschen arbeiten unbarmherzig viel;

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