Urangst
Mysterien in der Welt, in uns und in sich selbst und in allen Dingen und haben in entscheidenden Momenten besonders gute Antennen dafür.
Amy erkannte, dass dies ein solcher Moment war. Sie stand still da, sagte kein Wort, wartete und sah einfach nur zu, denn sie war sich sicher, dass sie eine Einsicht gewinnen würde, die sie für den Rest ihres Lebens mit sich herumtragen würde.
Nachdem sie den Plüschgorilla neben die Ente hatte fallen lassen, begab sich Ethel ein drittes Mal zu der Spielzeugkiste in der Abstellkammer.
Nickie warf einen Blick auf Fred, der durch ein Bollwerk von Stuhlbeinen zusah.
Fred neigte den Kopf nach links, dann nach rechts. Schließlich rollte er sich auf den Rücken, streckte alle vier Beine in die Luft und entblößte als Ausdruck uneingeschränkten Vertrauens seinen Bauch.
In der Abstellkammer biss Ethel in Spielzeuge, schleuderte sie zur Seite, wühlte mit dem Kopf tiefer in der Kiste und kehrte schließlich mit einem großen Tintenfisch aus rotem und gelbem Plüsch mit acht Tentakeln zu Nickie zurück.
Es war ein Quietschspielzeug, ein Zerrspielzeug und ein Schüttelspielzeug, alles in einem. Und es war Ethels liebster Besitz, den nicht einmal Fred anrühren durfte.
Ethel ließ den Tintenfisch neben den Gorilla fallen, und nach kurzem Nachdenken nahm Nickie ihn ins Maul. Sie ließ ihn quietschen, schüttelte ihn, ließ ihn noch einmal quietschen und ließ ihn fallen.
Fred rollte sich herum, kam ungeschickt wieder auf alle viere und nieste. Er tappte unter dem Tisch hervor.
Die drei Hunde starrten einander erwartungsvoll an.
Das Schwanzwedeln erstarb wie auf Absprache.
Ihre Ohren hoben sich so hoch, wie sich die samtigen Schlappohren eines Retrievers nur heben können.
Amy nahm eine neue Form von Anspannung in ihren muskulösen Körpern wahr.
Nickie rannte mit geblähten Nasenflügeln und der Schnauze auf dem Boden aus der Küche in den Flur und bewegte dabei ihren Kopf blitzschnell von links nach rechts. Ethel und Fred stürzten hinter ihr her.
Amy, die allein in der Küche zurückblieb und völlig darüber im Klaren war, dass sich hier etwas Ungewöhnliches abspielte, aber keinen Schimmer hatte, was das alles bedeuten sollte, rief: »Kids?«
Im Flur ging die Deckenlampe an.
Als sie an die Küchentür trat, fand Amy den Flur verlassen vor.
An der Vorderseite des Hauses, im Wohnzimmer, schaltete jemand eine Lampe an. Ein Eindringling. Und doch bellte keiner der Hunde.
9
Obwohl Brian McCarthy ein Talent fürs Porträtieren besaß, ging ihm das Zeichnen normalerweise nicht rasch von der Hand.
Der menschliche Kopf stellt mit den zahllosen Feinheiten von Form, Struktur und Proportion und mit der grandiosen Vielschichtigkeit im Verhältnis der Gesichtszüge zueinander eine solche Herausforderung dar, dass selbst Rembrandt, der wohl größte Porträtmaler aller Zeiten, mit dieser Kunst gerungen und sein handwerkliches Können bis zu seinem Tode verfeinert hat.
Der Kopf eines Hundes stellte keine geringere – der Standpunkt, sie sei sogar größer, wäre vertretbar – Herausforderung für einen Künstler dar. Viele Meister ihres Faches, die jeden Mann und jede Frau exakt wiedergeben konnten, waren bei ihren Versuchen gescheitert, Hunde wirklichkeitsgetreu zu porträtieren.
Bemerkenswert fand Brian, während er an seinem Küchentisch saß und den ersten Versuch unternahm, ein Hundeporträt zu zeichnen, die Geschwindigkeit, die für ihn undenkbar war, wenn er ein menschliches Gesicht zeichnete. Entscheidungen bezüglich der Form, der Struktur, der Proportionen und der Grautöne erforderten nicht den schwerfälligen Denkprozess, mit dem er gewöhnlich an sie heranging. Er arbeitete mit einer Selbstsicherheit, die er bisher an sich nicht kannte, mit einer neuen Anmut in der Hand.
Die Zeichnung tauchte mit einer so unheimlichen Leichtigkeit und so rasch auf dem Papier auf, dass es ihm fast
schien, das ganze Bild sei schon vorher gestaltet und wie durch Zauberhand in dem Bleistift gespeichert gewesen, aus dem es jetzt so selbstverständlich herausfloss, wie Musik von einer CD entströmt.
Während er um Amy warb, hatte er sich durch ihren Einfluss vielen Dingen geöffnet, nicht zuletzt der Schönheit von Hunden und der Freude, die sie bereiten können, auch wenn er selbst noch keinen eigenen Hund hatte. Er traute sich nicht zu, dieser Verantwortung gewachsen zu sein.
Anfangs war ihm nicht bewusst, dass er nicht nur den Prototyp von einem Golden Retriever zu Papier
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