Urbat - Der verlorene Bruder: Roman (German Edition)
Essays bezogenen Fragen an. Die erste war die einfachere der beiden: »Welcher Künstler hat den größten Einfluss auf Ihre Arbeit ausgeübt und warum?« Ich könnte sicherlich ganz leicht einen Essay über Renoir oder Mary Cassatt schreiben – wenn ich mich für einen der beiden entscheiden könnte. Die zweite Frage hingegen ließ mich innehalten. Verblüffte mich geradezu. »Wie werden Sie Ihre Begabung nutzen, um die Welt zu einem besseren Ort zu machen?«
Ich kaute noch immer auf der Frage herum, als ich bei der Erwähnung einer Nachricht im Fernseher unwillkürlich die Ohren spitzte. Ich erhob mich vom Tisch, um den Bildschirm besser sehen zu können. Ein Reporter interviewte eine Frau in einem zerrissenen roten T-Shirt, die mir entfernt bekannt vorkam.
»Ich wäre gestorben«, sagte die Frau. »Der Mann mit der Waffe sagte, er wolle mich umbringen. Doch dann gab es eine plötzliche Bewegung, dieser andere Typ tauchte quasi aus dem Nichts auf und zog den maskierten Mann von mir weg. Er rief mir zu, ich solle wegrennen. Das tat ich. Es kann auch noch ein Mädchen bei ihm gewesen sein.Ich konnte sie mir beide nicht genauer ansehen, aber sie haben mein Leben gerettet.«
Die Kamera zeigte jetzt einen Reporter vor einem Ü-Wagen, der vor der kleinen Gasse an der Tidwell Street geparkt war. »Nachdem Mrs. Taylor von einer oder mehreren unbekannten Personen gerettet wurde, lief sie zur nächstgelegenen Polizeiwache. Als die Beamten den Tatort erreichten, fanden sie einen der mutmaßlichen Angreifer bewusstlos und gefesselt neben einem Abfallcontainer vor. Der Polizei ist es bisher nicht gelungen, den Mann zu identifizieren oder zu befragen, doch sie hofft, ihn schon bald im Hinblick auf eine Reihe ähnlicher Überfälle vernehmen zu können, die sich in den letzten Wochen in der City abgespielt haben. Die Polizei vermutet, dass der Mann in die Ermordung von Leanne Greenwood verwickelt sein könnte, einer Kellnerin, die im letzten Monat in derselben Gegend tot aufgefunden wurde. Obwohl nur einer der mutmaßlichen Angreifer von Mrs. Taylor festgenommen werden konnte, ist die städtische Polizei erleichtert, dass zumindest ein gefährlicher Krimineller heute Abend von den Straßen der Stadt verschwunden ist.«
Die Kameraeinstellung wechselte wieder zum Nachrichtensprecher. Es war der mit dem strubbeligen Haar, derselbe wie neulich abends. »Vielen Dank, Carlos. Das klingt ja so, als hätten wir uns bei ein oder zwei Barmherzigen Samaritern für die Festnahme zu bedanken.«
»Ganz genau«, erwiderte der Reporter vor dem Ü-Wagen. »Captain Morris von der Polizei sagte, dass dies nicht der erste Bericht über einen unbekannten Bürger sei, derwährend der letzten paar Wochen dabei geholfen habe, ein Verbrechen zu verhindern. Vielleicht gibt es ja Hoffnung, dass diese Verbrechenswelle, die unsere Stadt in Angst und Schrecken versetzt, ein baldiges Ende findet.«
»Danke für die guten Nachrichten, Carlos«, sagte der Nachrichtensprecher und der Sender schaltete zu einem Werbespot um.
Ein warmes Gefühl überkam mich. Meine Finger zitterten, als ich die Bewerbungsformulare auf dem Tisch zusammenschob. Bevor ich die Papiere wieder in den Umschlag steckte, sah ich mir noch einmal die zweite Frage an. Wie würde ich meine Begabung nutzen, um die Welt zu einem besseren Ort zu machen?
Ich trug den Papierstapel in mein Zimmer und legte ihn neben meinem mehr als alten Computer auf den Schreibtisch. Dann nahm ich die Khakihose, die ich am Tag getragen hatte, vom Stuhl und fasste in die vordere Tasche.
Meine Hände zitterten noch immer, als ich den zusammengeknüllten Zettel herauszog und die darauf notierte Nummer wählte.
Es klingelte viermal, dann nahm jemand ab.
»Hallo?«, sagte eine männliche Stimme. Meine sensiblen Ohren nahmen im Hintergrund Musik und nach Schüssen klingende Geräusche wahr. Er musste wieder zurück im Depot sein.
»Talbot? Hier ist Grace.«
»Hey, Kiddo. Was gibt’s?«
Ich atmete tief ein, stieß die Luft wieder aus und sagtedann, bevor ich es mir anders überlegen konnte: »Ich möchte, dass du mich trainierst. Ich will meinen Bruder finden – und hoffentlich in einem Abwasch diese Gang erledigen, die hier die Stadt terrorisiert.«
Talbot lachte. Ich konnte das Lächeln in seiner Stimme hören, als er sagte: »Ich dachte schon, du würdest mich nie fragen.«
KAPITEL 15
Test
Dienstagnachmittag
»Bist du wirklich bereit?«, fragte Talbot, als ich in den Van kletterte.
»So
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