Urbat: Gefährliche Gnade (German Edition)
die Gabriel erfahren hatte, wunderte ich mich, dass er seinem Alpha noch immer diesen Respekt entgegenbrachte. Doch andererseits war Gabriels und Sirhans gemeinsame Geschichte viel bedeutender, als die letzten paar Tage es gewesen waren. Seit Jahrhunderten waren sie wie Brüder füreinander gewesen. Gabriel hatte mir einmal erzählt, dass der schnelle Alterungsprozess – und die unausweichliche Nähe des Todes – zu Sirhans verändertem Verhalten in der letzten Zeit geführt hatten.
»Nun gut«, sagte Sirhan. Er winkte mit seiner verwelkten Hand und erlaubte seinen Anhängern, sich zu erheben. »Ich habe nicht mehr viel Kraft übrig.«
Sirhans Sprecher klopfte dreimal mit dem Schaft seines Speers auf den Holzfußboden. »Die Ältesten der beiden Rudel versammeln sich in der Mitte des Raums zu Verhandlungen. Tretet vor.«
Die Männer in den grünen Gewändern formten einen Halbkreis um Sirhans Stuhl.
»Ich gehöre dazu«, sagte Lisa. »Ich sollte besser gehen.«
»Gehörst du jetzt zu den Ältesten?«, fragte Daniel.
»Tja«, erwiderte sie und raffte ihre Robe zusammen. »Methuselah ist vor ein paar Monaten an Altersschwäche gestorben. Sirhan wollte etwas frisches Blut für den Rat – und so wurde ich ernannt. Marrock war total sauer, wie du dir vorstellen kannst.« Sie deutete auf einen großen, blau gewandeten Mann mit Dreadlocks und Bart.
Daniel nickte.
Lisa eilte zu dem Halbkreis aus Ältesten. Einer von ihnen reichte ihr einen Speer.
Daniel sah mich an. »Äh … gibt es eigentlich Älteste in unserem Rudel?«
Ich zuckte mit den Schultern.
Daniel gab meinem Vater, Jude und Talbot ein Zeichen, uns zu folgen. Ich hätte gerne mein Veto gegen seine letzte Wahl eingelegt, dachte mir aber, dass er seine Gründe haben musste. Wir formten ebenfalls einen Halbkreis und standen Sirhan gegenüber.
»Kommen wir gleich zum Kern der Sache.« Mit einem seiner langen, krallenartigen Finger deutete er auf mich. Er winkte mich näher heran. »Das Divine-Kind behauptet, mich vom Fluch des Werwolfs befreien zu können. Was will es dafür haben?«
Ich trat ein paar Schritte vor. »Neutralität. Für Gabriel, Daniel, meine Familie und den Rest meines Rudels. Und auch für diese Stadt. Niemand in Rose Crest darf von dir oder deinen Leuten verletzt werden. Ist das klar?«
»Stolze Befehle von einer so kleinen und jungen Person.«
»Unterschätz mich nicht«, sagte ich. »Sag mir, hast du je zuvor von jemand anderem gehört, der einen Urbat vom Fluch des Wolfs befreien konnte? Kennst du irgendwelche anderen ›Göttlichen‹? Ich habe Daniel vom Fluch befreit, und ich kann dir dasselbe garantieren. Aber nur, wenn du uns Neutralität zusicherst.«
Sirhan runzelte die Stirn. »Bringt den Kalbi-Jungen zu mir«, befahl er. »Wenn der Junge, wie du und Gabriel behaupten, vom Fluch befreit ist … wieso verfügt er dann noch immer über die Alpha-Natur?«
Zwei der Wächter packten Daniel und schleppten ihn heran. Es schien ihm nichts auszumachen, aus nächster Nähe in Sirhans monströses Gesicht zu blicken. Sirhan nahm die Sauerstoffmaske ab und rümpfte seine schnauzenförmige Nase. Nach mehreren tiefen Atemzügen, mit denen er Daniels Geruch aufnahm, schürzte er knurrend die Lippen. »Du bist kein Urbat«, sagte er zu Daniel. »Was bist du?«
»Ich wünschte, ich wüsste es«, erwiderte Daniel.
»Aber du weißt es doch«, sagte ich. »Du bist ein Hund des Himmels. Ein wahrer Hund des Himmels. Mit der Macht eines Urbats, aber ohne den Fluch, der von einer Generation an die nächste weitergegeben wird. Und von einer Infizierung zur nächsten. Er ist das, was ihr nach Gottes Willen alle sein solltet.«
Plötzlich ergab alles einen Sinn, als ich die Worte aussprach. Ich konnte kaum glauben, dass ich bis zu diesem Zeitpunkt nie in der Lage gewesen war, meine Erkenntnis so präzise zu formulieren. Gabriel nickte und schien meiner Schlussfolgerung zuzustimmen – und als Daniel mich ansah, glaubte ich für eine Sekunde den Funken der Erkenntnis in seinen Augen aufblitzen zu sehen. Als hätte auch er es endlich verstanden – und akzeptiert.
Die Ältesten tuschelten miteinander. Einer von ihnen beugte sich zu Sirhan und flüsterte ihm etwas in seine spitzen Ohren. Der Alpha nickte.
»Alle Macht ohne den Fluch?«, fragte er. Irgendetwas leuchtete in seinen gelben Augen auf. Er winkte den Wächtern zu, die Daniel daraufhin an die Seite führten, wo Gabriel stand.
»Sag mir, mein ›göttliches‹ Kind«, fuhr Sirhan fort.
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