Urbat: Gefährliche Gnade (German Edition)
ich sie geöffnet hätte. Ob ich widerstehen könnte, sie zu öffnen.
Doch immerhin stand da, dass sie für mich gedacht war.
Ich tippte auf das Touchpad und öffnete die Datei. Mir war klar, dass ich an nichts anderes mehr hätte denken können, als an das, was Daniel für mich geschrieben hatte. Es war ein Gedicht:
Für Grace –
Ich lief durch kühle Abendluft
Sah Blätter liegen
Vom selben Wind herabgefegt, der durch mein Fenster bläst
Wie Schachteln voller Gedanken im engen Kellerraum
Selbst auferlegt
Sortierte Postkarten, Fotoalben
Ungeordnete Erinnerungen an dich
Langsam schritt ich voran, mit hellwachen Gedanken
Der Mond ging auf und verschwand
An nackte Füße und Spaziergänge im Kerzenschein
An wärmende Träume
An sanfte Hände und lila Augen
Ich atme den Duft der Nacht und warte
Warte und sehe dem Lauf der Sterne zu
Du kamst vorbei und hieltest die Sterne an
Pflücktest den Mond vom Himmel mit diesen Worten –
Ich träumte, dass ich bleiben wollte
Doch ich sah die Sterne und sah dein Gesicht
Konnte nicht ruhen, als ich dich sah
Dein Lachen, deinen Glanz, deine Schönheit,
Deine Gnade
Ich liebe dich.
Meine Augen füllten sich mit Tränen und ich war kaum fähig, die letzten Zeilen zu lesen. Mein Herz tat so weh. Ich presste die Hände an meine Brust. Der Schmerz rührte jedoch nicht von Leid – es war das Gefühl der Leere in mir, die wieder mit der strömenden und pulsierenden Wärme von Daniels Liebe aufgefüllt wurde.
Wie hatte ich jemals an ihm zweifeln können? Wie konnte ich zulassen, dass mein Zorn ihn von mir forttrieb?
Das durfte ich nicht zulassen.
Ich musste etwas unternehmen.
Und ich war gar nicht den ganzen Tag wie ein streunender Hund herumgelaufen – ich war weggerannt vor dem, was ich, wie ich wusste, schon längst hätte tun müssen, noch bevor Gabriel mir dazu geraten hatte. Ich packte meine Sachen zusammen und ging langsam zu der Krankenhauskapelle, an der ich auf dem Weg in die Cafeteria vorbeigekommen war. Im Innern der Kapelle sah es anders aus als in der Pfarrkirche meines Vaters in Rose Crest – eher steril als sakral –, doch ich wusste, dass ich Gott auch hier finden könnte, wenn ich nach ihm rief. Langsam ging ich durch die leere Kapelle und trat an den Altar. Ich fiel auf die Knie und tat plötzlich das, wovor ich seit viel zu langer Zeit Angst gehabt hatte.
Zum ersten Mal, seit ich blutüberströmt und zum Sterben bereit auf dem Fußboden des Lagerhauses der Shadow Kings gelegen hatte, betete ich.
Um Vergebung.
Um Hilfe.
Um Frieden.
Um die Fähigkeit, Daniel zurückbringen zu können.
KAPITEL 15
Allein
Später Nachmittag
Als ich das Krankenhaus schließlich verließ, war mein Herz so leicht wie schon seit Tagen nicht mehr. Doch dafür war es draußen dunkel und bewölkt. Der Geruch von Regen hing in der Luft. Ich musste in Rose Crest noch eine Sache erledigen, bevor ich nach Hause fahren und mich dort vor dem aufziehenden Sturm verkriechen konnte. Ich hielt auf dem Parkplatz hinter dem Copy-Shop an der Main Street und schleppte meine große Tasche hinein. Es kostete ein kleines Vermögen, die Bewerbungsdokumente von Daniels Laptop auf edlem Papier ausdrucken zu lassen und zwei Pakete per Express an das Trenton Art Institute zu versenden. Das eine war ein dicker, gepolsterter Umschlag, und das andere eine große, mit Schnur umwickelte Portfolio-Schachtel. Auf beiden Paketen war Daniels Adresse als Absender angegeben.
Ich war schon wieder auf dem Weg zum Parkplatz, als ich fast mit Katie Summers zusammenstieß, die mit ihrer eigenen Bewerbung in den Laden wollte.
»Hi«, sagte sie. »Sieht so aus, als hätten wir heute dieselbe Idee. Du willst wohl deine Bewerbung auch nicht auf den letzten Drücker abschicken, was?«
»Genau«, erwiderte ich, obwohl ich mit meiner Bewerbung noch nicht mal angefangen hatte. Bei all den Dingen, die mir im Augenblick passierten, war fraglich, was bis Freitag noch geschehen könnte. Aber immerhin war ich erleichtert, dass zumindest Daniels Bewerbung jetzt auf dem Weg war.
Das war das Mindeste, was ich gerade für ihn tun konnte.
»Ich bin erstaunt, dass du überhaupt Zeit hattest«, sagte Katie. »Als ich das von deinem Vater gehört habe, und nachdem du heute nicht in der Schule warst, da dachte ich …«
Sollte das etwa heißen, dass sie gehofft hatte, der Unfall meines Vaters würde mich davon abhalten, meine Bewerbung einzureichen? Dass der Unfall den Wettbewerb etwas verkürzt hätte?
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