Urbat: Gefährliche Gnade (German Edition)
Daniel parkte den Corolla auf dem leeren Platz vor der Kirche. Plötzlich wurde mir klar, dass Jude die ganze Zeit allein war, während sich alle anderen bei uns zu Hause aufhielten.
Ich seufzte und griff zögernd nach dem Türöffner.
»Bist du bereit?«, fragte Daniel.
»Ja«, erwiderte ich. »Nein. Vielleicht. Ich weiß nicht.«
»Alles gleichzeitig?«
»Als ich Jude das letzte Mal besucht habe, lief es nicht besonders gut. Ich habe ihn beschuldigt, die Krankenschwester umgebracht zu haben. Die dann aber von Pete getötet wurde. Du weißt doch, oder?«
Daniel nickte. »Ja, ich kann mir vorstellen, wie er darauf reagiert hat.«
»Ich weiß gar nicht, was ich zu ihm sagen soll. Ich konnte ihm nicht mal in die Augen sehen.«
»Dann wäre ich auch ziemlich wütend geworden. Wie kannst du erwarten, dass es ihm besser geht, wenn ihn seine eigene Schwester nicht mal ansehen kann?«
Ich hatte ziemlich große Schuldgefühle. »Ich weiß. Ich glaube, ich hatte einfach Angst davor, was ich in seinen Augen sehen würde.«
»Was immer es sein mag, er kann sich ändern. Jeder kann das. Dessen bin ich mir inzwischen sicher.«
»Jeder?« Ich blickte in seine dunklen Augen. »Sogar Caleb?«
Daniel zögerte und räusperte sich dann. »Ja … Noch vor kurzer Zeit hätte ich das nicht gesagt. Es gab eine Zeit, als ich dachte, dass selbst ich mich nicht ändern könnte, aber du hast mir den Weg gezeigt.« Er lächelte. »Du warst meine rettende Grace. Meine Gnade. Und das mehr als einmal.«
»Aber so jemand wie Caleb ist das Böse an sich. Wie kann man das ändern?«
»Gelals und Akhs sind das pure Böse. Sie sind bloß Dämonen. Sie haben keine Seele. Aber Caleb ist ein Urbat. Er hat noch immer ein menschliches Herz – was meiner Ansicht nach bedeutet, dass er auch eine menschliche Seele hat. Wie schwarz sie auch sein mag. Ich möchte einfach daran glauben, dass es irgendwo in seinem Innern noch ein kleines Licht gibt. Einen Funken Menschlichkeit. Wenn er sich zu einer Veränderung entschließen würde – und irgendwie versuchte, seine schrecklichen Taten wiedergutzumachen –, dann hieße das vielleicht, dass er noch immer gerettet werden könnte.«
»Ich denke nicht, dass er sich jemals ändert«, sagte ich.
»Ich behaupte nicht, dass es wahrscheinlich ist, aber es ist noch immer möglich.« Daniel schaute zur Kirche. »Ich weiß nicht, vielleicht klingt es dumm, aber ich glaube, dass jeder zur Veränderung fähig ist. Was nicht unbedingt heißt, dass es auch geschieht. Niemand kann gerettet werden, solange er es nicht will.«
»Und was ist mit Jude? Glaubst du, dass er sich verändern will?«
»Es gibt nur einen Weg, um das herauszufinden.«
Ich holte tief Luft und wusste genau, dass ich es nicht länger vor mir herschieben konnte. »Ich hoffe nur, dass er mich überhaupt zu Wort kommen lässt, geschweige denn mir zuhört.«
»Das wird er, Grace. Das ist das Besondere an dir. Du kannst die Menschen nicht nur retten – so wie du deine Eltern heilen konntest – sondern du kannst den Menschen das Gefühl geben, dass sie gerettet werden wollen . Vergiss nicht, was er gerade durchmacht, ist etwas anderes, als was du erlebst.«
»Was meinst du damit?«
»Der Wolf – die Stimme, die du hörst und die dich zu manipulieren versucht – ist hundert Mal stärker, nachdem du ihr erst einmal nachgegeben hast. Sie wird immer da sein. Dagegen zu kämpfen, ist eine ständige Herausforderung. Nach Hause zu kommen, den Wolf zu bekämpfen und zu versuchen, mich mit den Menschen auszusöhnen, die ich am meisten verletzt habe, war die schwierigste Aufgabe, der ich mich jemals gestellt habe. Der Wolf in meinem Kopf brüllte die ganze Zeit, dass mir niemals vergeben werden könne. Ich zweifle nicht daran, dass Jude gerade Ähnliches durchmacht.«
Daniels Worte berührten mich zutiefst. Ich hatte wohl niemals wirklich begriffen, welch schlimmen Kampf er durchlitten hatte, um die Umklammerung des Wolfs in seinem Innern zu überwinden. Und diesen Kampf durchlitt Jude jetzt ebenso.
»Du musst ihn daran erinnern, dass er geliebt wird. Und dass ihm vergeben werden kann . So was kannst du doch sehr gut.«
Ich fühlte mich ein wenig zuversichtlicher, als ich mich daran erinnerte, was ich einst für Daniel getan hatte. Und für Mom und Dad. Diese Art von Energie, die ich dank meiner Hände anwenden konnte, überzeugte mich, dass ich jetzt eine andere Person war, als die, die erst vor zwei Tagen mit Jude zu reden versucht
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