Urmels großer Flug
zutraulich, er schob den Fensterflügel mit dem
Schnabel auf, sogar sehr weit auf, und sagte deutlich: »Guten Morgen!«
»Ein
Papagei!« rief die Lehrerin entzückt. Ihre Großtante hatte so einen sprechenden
Vogel gehabt. Allerdings saß der im Käfig und war viel kleiner und hatte immer
»Dummes Ding!« zu ihr gesagt, weshalb sie ihn eigentlich nie so gern mochte.
Auch
Schusch erlaubte sich, »Dummes Zeug!« zu sagen. »Äch bän beileibe kein Papagei!
Äch bän ein Schuhschnabel. Aber darum geht es jetzt nächt. Äch bän gekommen, um
euch einen Besuch anzukündägen. Wenn ähr freundlächst alle Fenster weit
aufmachen wolltet: Äch komme gleich mät ähm zurück!« Nachdem er diesen langen
und sehr schwierigen Satz gesprochen hatte und dadurch außer Atem gekommen war,
drehte sich Schusch schnell um und flog davon, um das Urmel zu holen.
Die
Kinder staunten hinter ihm her durchs Fenster. Ein jedes hatte ein kleines,
offenes Mäulchen, das aussah, wie ein rund gemaltes O.
Neuntes
Kapitel
In dem das Urmel sich den Kindern vorstellt und die Lehrerin in
Ohnmacht fällt
Es brauchte
eine gewisse Zeit, bis sich die Lehrerin von ihrem gewaltigen Erstaunen erholt
hatte. Dann flüsterte sie: »Unheimlich, wirklich unheimlich. Es klang so, als
spräche er nicht nur, sondern als könnte er auch noch denken! Ach Unsinn! Es
war ein dressierter Vogel. Er gehört bestimmt einem Zirkus. Kinder! Ich laufe
schnell hinunter zum Hausmeister, um die Polizei zu benachrichtigen. Sollte er
wirklich wiederkommen — ich glaube es zwar nicht, aber er hat es gesagt-,
immerhin, man weiß ja nicht, es könnte ein Zufall sein. Also: Wenn er
zurückkommt, dann haltet ihn fest, oder verjagt ihn mindestens nicht!«
»Und
den anderen Vogel, den er holen will?«
»Ach,
er wird keinen holen. Diesen Satz sagt er vielleicht jeden Abend in seiner
Vorstellung. Aber egal. Wenn er wiederkommt, allein oder zu zweit — nun, wie
ich gesagt habe...« Rasch verschwand sie, um zu telefonieren.
Und
kaum war sie aus der Tür, rauschten Schusch und das Urmel auf die Brüstungen.
Das Fenster, in dem das Urmel stand, wurde von ihm fast ganz ausgefüllt. Und
die Kinder kreischten und drängten sich weit zurück, an die Seitenwand und in
die Ecken. So ein gewaltiges Flugtier hatten sie noch nie gesehen. Es sah
wahrhaftig fürchterlich aus. Und ein ziemlich winziges Mädchen mit abstehenden
Zöpfen und ebenso abstehenden Ohren begann zu weinen und sagte: »Ich will nach
Hause! Mutti, es... es ist ein...«
»Sehr
richtig«, sagte das Urmel. »Ich bin ein Urmel, wie klug, daß du das gleich
erkannt hast.«
Kein
Kind hatte das Urmel erkannt, denn damals war noch keines der vielen
Urmel-Bücher geschrieben worden. Sonst wäre diese Geschichte sicher ganz anders
weitergegangen. So aber schauten und staunten die Kinder nur, zwischen Furcht
und Neugier hin und her gerissen.
»Halte
das Fenster offen«, rief das Urmel Schusch zu, und dieser schubste den Flügel
des zweiten Fensters noch weiter auf und stellte sich in die Öffnung wie eine
Schildwache. Er legte den Kopf schief zur Seite und zwinkerte. Er wollte nichts
von dem verpassen, was sich im Klassenzimmer abspielte.
Zunächst
hüpfte das Urmel vom Fensterbrett, es sprang auf eine Bank und von dieser auf
den Fußboden. Danach watschelte es zum Pult der Lehrerin, nahm ein Stück Kreide
in die Vorderpfote, stellte sich an die schwarze Tafel und fragte: »Also, noch
einmal: Wer bin ich?«
Ein
etwas vorwitziger, sommersprossiger Bub, der ganz hinten stand und sich daher
von den vor ihm stehenden vielen Kindern geschützt fühlte, dieser Bub reckte
den Finger und sagte: »Du bist unsere neue Lehrerin!«
Zaghaft
versuchten manche Kinder zu lachen.
»Sehr
komisch!« rief das Urmel leicht erbost. »Na, meinetwegen. Dann lernt auch etwas
von mir. Ich bin also ein Urmel.« Es malte mit Kreide etwas auf die Tafel, was
sehr entfernt einem Urmel glich und fuhr fort: »Ein Urmel. Und ich komme aus
einem Ei, das im Eis eingefroren war.« Sehr rasch erzählte es die ganze
Geschichte von seiner Ankunft auf Titiwu, wie es ausgebrütet wurde und von Wutz
aufgezogen — die schöne Geschichte, die heute bei uns fast jedes Kind kennt.
Diese
Kinder hier aber fanden das alles sehr komisch, ganz besonders die Sache mit
den redenden Tieren und mit Wutz als Mama. Man denke: ein Schwein, das einem
Professor den Haushalt führte und in einer Schlummertonne wohnte!
»Mär
scheint, sä glauben där nächt«, bemerkte daher
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