Urmels großer Flug
Schusch. Und er hatte recht.
Aber
nun hatte auch die Lehrerin zu Ende telefoniert. Sie kam zurück, öffnete die
Klassenzimmertür möglichst vorsichtig und flüsterte, um den seltenen Gast nicht
zu vertreiben, atemlos: »Ist der Vogel noch da?«
»Här
bän äch!« kreischte Schusch unbekümmert, denn er war doch gemeint.
Die
Lehrerin sah ihn an. Dann erblickte sie das Urmel an der Tafel, vielmehr, sie
sah eine Mischung aus Drachen und Krokodil, grau-grün und — wie ihr schien —
grauslich, mit den Krallen, der Schnauze und dem dicken Schwanz.
Sie
lehnte sich an den Türpfosten und sank an diesem langsam herab, in eine gnädige
Ohnmacht. Aber sie konnte noch murmeln: »Polizei! Polizei!«
»Nächts
wä weg!« rief Schusch dem Urmel zu. »Wenn sä nach der Poläzei telefonärt hat,
dann kommt däse auch gleich!«
Im
Wegstürmen stibitzte das Urmel noch ein Frühstückspaket von einer Bank, mit
Butterbrot, Äpfeln und Nüssen. Und danach flogen die beiden weit weg von der
Schule, weit weg aus der Stadt, in einen Wald, wo sie ganz unbeobachtet waren
und gemütlich frühstücken konnten.
Ȁch
schlage vor, wär flägen heim nach Tätäwu!« meinte Schusch, der sich Nüsse
aufknackte und sie genußvoll verspeiste. »Auf Tätäwu äst das Leben doch väl
wenäger aufregend.«
»Aber
nicht so spannend«, sagte das Urmel. »Wenn ich erst einmal wieder dort bin,
komme ich so schnell nicht noch einmal fort. Da werde ich nämlich eingesperrt,
von Wutz. Nee, jetzt will ich die Welt kennenlernen.«
Aus
der Feme klangen gedämpfte Geräusche zu ihnen, zwischen Vogelgesang und
Blätterrauschen. Es klang wie ein Rattern und Pfeifen. »Was ist das?«
Schusch,
der ja etwas kleiner und daher weniger auffällig war, erklärte sich bereit,
Ausschau zu halten. Er flog über die Baumwipfel, kehrte zurück und berichtete:
»Eine sehr lange Schlange. Man nennt sä Eisenbahn!«
»Sehr
gut«, meinte das Urmel. »Ich will Eisenbahn fahren. Dabei komme ich in der Welt
herum und brauche doch nicht zu fliegen und kann mich ausruhen.«
Ȁch
weiß nächt...« Schusch zeigte sich wenig erfreut. »Aber ausruhen wäre gut. Äch
bän zämläch müde.«
»Wir
werden hier im Wald schlafen. Ich nehme einen Nachtzug. Es ist sowieso besser,
wenn ich die Dunkelheit abwarte, sonst laufe ich womöglich gleich der Polizei
in die Arme.«
Das
Urmel legte sich zum Schlafen nieder, und Schusch suchte sich zu demselben Zweck
einen Zweig aus, der seinem Ast auf Titiwu, auf dem er zu schlafen pflegte, am
ähnlichsten war.
Zehntes
Kapitel
In dem das Urmel einen Zug besteigt und eine Notbremsung verursacht
Sie
schliefen wie Igel im Winterschlaf, so fest und so tief. Manchmal kam ein Reh
oder ein Hase in die Nähe und äugte verwundert, manchmal kamen Krähen und
Elstern, einmal auch ein Eichhörnchen. Aber alle verschwanden schnell wieder.
Als
die beiden Weltenbummler aufwachten, war es dunkel geworden, und sie fühlten
sich wundervoll ausgeschlafen. Daher beschloß das Urmel, sogleich auf die Reise
zu gehen.
Zunächst
flogen sie zu den Bahngleisen. Dabei erschreckten sie zwar nur einen einsamen
Spaziergänger, den dafür aber gründlich. Er hatte noch nie so riesenhafte
Nachtvögel gesehen. So ein Ungeheuer von einer Eule und so ein Riesenkäuzchen,
oder was immer es gewesen sein mochte. Zu Hause glaubte ihm dann kein Mensch
seine aufgeregte Schilderung. Man riet ihm, zum Augenarzt zu gehen.
Urmel
und Schusch fanden die Bahngleise, die wie mattsilbern glänzende, schnurgerade
Linien durch die Landschaft liefen, kein Ende vorne und kein Ende hinten. Sie flogen
immer die Bahngleise entlang, bis sie wieder in die Stadt Pumpolon kamen, zum
Hauptbahnhof. Die Bahnhofshalle war beleuchtet, und der Bahnsteig war sehr
lang. Ein Zug stand abfahrtsbereit da. Ganz vorne, beim ersten Wagen hinter der
Lokomotive, waren keine Menschen auf dem Bahnsteig, sie standen weiter hinten
und unterhielten sich mit denen, die abfuhren und schon eingestiegen waren.
Hier war also die beste Stelle für das Urmel, um unbemerkt und ohne Fahrkarte
einzusteigen, zumal der Lokomotivführer nach dem Bahnhofsvorsteher mit der
Kelle Ausschau hielt und nicht auf einen kleinen, etwas dicklichen Fahrgast
achtete, der eben die Wagentür öffnete.
»Steig
ein«, ermunterte dieser Fahrgast eine Art Haustier, das offenbar mit ihm
reiste. Wirklich, die Leute reisen mit den seltsamsten Tieren, nicht nur mit
Hunden oder auch mit Katzen, nein, auch mit Papageien, Kanarienvögeln
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