Uschi Zietsch
Ihre Fühler ausstreckten, las ich in Ihren Gedanken, was Sie vorhatten.«
»Ihr lest bei mir auch ... oh!« Sie sprang empört auf.
Er lächelte verschmitzt. »Nur ein Test, kleine Libelle, weil Sie etwas Besonderes sind. Ich stöbere normalerweise nicht im Gedankeninhalt anderer Leute. Ein schlechtes Gewissen brauche ich also nicht zu haben, denn ich tat dasselbe, was Sie auch tun wollten.«
Sie errötete und setzte sich wieder. »Hättet Ihr es getan?«, fragte sie.
»Was?«
»Mich übers Knie gelegt.«
»Was glauben Sie?«, fragte er zurück. »Ohne Gedankenlesen, Prinzessin!«
»Hm.« Sie krauste die Nase und runzelte die Stirn. »Ich denke schon«, erklärte sie dann.
»Dann ist es gut«, meinte er. In seinen Augen blitzte es belustigt.
Sie lachte plötzlich. »Wie habt Ihr mich vorhin genannt?«
»Wie? Ach so – kleine Libelle.«
»Das ist hübsch«, sagte sie fröhlich. »Wie kommt Ihr darauf?«
Seine Antwort darauf war erstaunlich und verwirrte sie zutiefst. »Weil Sie so schillernd, farbenfroh und schön wie eine Libelle seid, so anmutig und graziös in Ihren Bewegungen wie diese im Flug. Sie sind zerbrechlich und doch stark und schwirren voller Energie durch Ihr junges Leben.«
Sie erhob sich abrupt. »Ich muss gehen«, sagte sie verlegen. »Aber ich habe noch eine Frage: Empfindet Ihr Eure Gabe als Belastung?«
»Nein, das tat ich nie.«
»Ich auch nicht«, stimmte sie zu. »Aber glaubt Ihr, dass diese Gabe für etwas Besonderes gedacht ist? Wir sind die Einzigen und nun zusammengetroffen.«
»Es kann eine mystische Bedeutung haben, Prinzessin«, erwiderte er. »Aber vielleicht sind wir auch nur die ersten einer neuen Generation.«
»Ein Mann und eine Frau«, schloss sie nachdenklich.
»Kein Mann, Gorwyna. Ich bin ein Zauberer. Ich glaube, die Menschen werden den Unterschied nie begreifen.«
»Aber Ihr seid doch ein Mann?«
»Ja, von Geburt und Aussehen her. Aber ich werde nie Liebhaber, Ehegatte oder Vater sein, sondern immer nur Zauberer. Verstehen Sie?«
Sie nickte, sagte jedoch: »Nein, nicht genau«, und wandte sich zum Gehen.
»Libellchen!«, rief er leise hinter ihr her, und sie drehte den Kopf zu ihm. »Ich verstehe Ihre Gefühle. Ich wünsche Ihnen den zärtlichsten und aufmerksamsten Mann der Welt. Ein Geschöpf wie Sie muss auf Händen getragen werden.«
»Danke«, flüsterte sie und lächelte. »Gute Nacht, Lord Kelric.«
»Gute Nacht, Prinzessin.«
15.
Im Phantomland
Einige Wochen später lagerten sie an der Grenze von Phantomland. Die besorgten Eltern hatten ein halbes Heer und viele Versorgungswagen auf den Weg geschickt; der Abschied war tränenreich gewesen, als die jüngste Tochter sich auf eine so weite und gefahrvolle Reise begab. (Die Aussteuer allerdings sollte die Prinzessin erst erhalten, wenn der Bräutigam mit ihr nach Loïree zurückkehrte und der Friedensvertrag unterzeichnet war. Deshalb waren sie nur »mit kleinem Gepäck« unterwegs.) Boten waren bereits nach Laïmor ausgesandt worden, um den Tag des Aufbruchs mitzuteilen. Bestimmt würde die Truppe an der Grenze des Königreiches erwartet und in allen Ehren empfangen, um die Prinzessin sicher zum Schloss zu geleiten.
Doch bis dahin mussten das Phantom-Land, der Nördliche Schwefelfluss und das Regental überwunden werden. Viele Sternenwanderungen würden vergehen, bis die Grenze von Laïmor erreicht würde, und die Gefahren, die unterwegs drohten, sprach niemand laut aus. Aber König Emhold war dennoch zuversichtlich, da Lord Kelric persönlich den Schutz der Prinzessin übernahm.
»Diese Auseinandersetzungen müssen endlich beigelegt werden, wenn unser Kampf gegen Oloïn in die entscheidende Phase tritt, wie Ihr sagt«, sprach er zu Kelric. »Gewiss, lieber würde ich selbst nach Laïmor gehen, um meiner Tochter diese beschwerliche und gefahrvolle Reise zu ersparen, aber ich fürchte, Prinz Lyrwe will mich nicht heiraten.«
Kelric musste unwillkürlich grinsen. »Man kann nie wissen, mein Freund, ich habe schon so manche Überraschung auf meinen Reisen erlebt, das dürft Ihr mir glauben.«
»Da würde ich gerne ein Beispiel hören«, sagte der König neugierig, und Kelric hatte launig eine Geschichte zum Besten gegeben, die von zwei verfeindeten Städten handelte, die ähnlich wie die beiden Königreiche Frieden durch Heirat schließen wollten. Dummerweise aber verschwand der Bräutigam mit dem Brautwerber der holden Jungfrau, den Kelric begleitete, unterwegs über alle Berge, und die Fehde
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