Uschi Zietsch
Schock, als er tatsächlich nach vielen Stunden ihre Stimme schwach antworten hörte. Und da sah er sie durch die Regenschleier auch schon auf sich zukommen, eine kleine magere, von flatternden Fetzen umgebene Gestalt, und sie rief nach ihm: »Kelric! Kelric, Kelric!«
»Gorwyna!«, schrie er und breitete die Arme aus, um sie aufzufangen. Sie stolperte, schaffte es nicht mehr zu bremsen, prallte auf ihn und umklammerte ihn zitternd und weinend. Er hob sie in seiner Umarmung hoch, sie wog ja kaum mehr als ein Kind, und vergrub das Gesicht in ihren nassen schwarzen Haaren, atmete ihren vertrauten süßen Duft nach Wildblumen und Orchideen ein, fühlte dankbar ihre lebendige Wärme, spürte den kräftigen Schlag ihres Herzens. Ein Wunder. Er war so dankbar, dass er in diesem Moment alles gegeben, jeden Preis bezahlt hätte. Noch nie hatte er so viel Glück empfunden, am wenigsten an einem solchen Ort. Er presste sie an sich, und seine Tränen vermischten sich mit dem Regen, als er das Gesicht zum Himmel hob und den Mund zu einem lautlos lachenden Schrei des Glücks öffnete; seine Lippen formten ein stilles, dankbares Stoßgebet.
»Kelric!«, schluchzte das Mädchen dumpf an seiner Schulter. »Du lebst, du lebst! Ich konnte deine Gedanken nicht mehr hören, aber ich wollte es nicht glauben, ich lief einfach immer weiter, wohin sollte ich auch gehen ...«
»Beruhige dich, Liebstes, hab keine Furcht mehr«, flüsterte er, »nun ist alles gut ...« Er trug sie weiterhin, an sich gedrückt wie einen kostbaren Schatz, und atmete sie mit geschlossenen Augen ein. Sie entspannte sich in seinen Armen, ihr Zittern ließ nach, und er wünschte sich, er könnte sie auf immer so halten.
Nach einer Weile setzte er sie ab und strich die nassen Haare aus ihrem Gesicht, konnte es immer noch nicht fassen, sie lebendig und munter, augenscheinlich nahezu unverletzt, zu sehen. Sie sah so klein und zerbrechlich aus, viel jünger als sie war; und doch hatte sie überlebt und zu ihm gefunden. »Ich hatte die Hoffnung fast aufgegeben«, stieß er mit brüchiger Stimme hervor. »Ich war dem Wahnsinn schon nahe ... es war unerträglich.«
Sie blinzelte, ihre Augen wurden groß und noch dunkler; dann leuchteten sie auf, als sie die Wahrheit begriff. »Du ... du liebst mich also doch«, stammelte sie. »Du liebst mich, Kelric! Wie ein Mann eine Frau liebt, so liebst du mich!«
»Nein«, sagte er betroffen. Das war zu viel; nicht in diesem Moment durfte das sein, nein, überhaupt niemals. Keine Liebe; nicht so, wie sie es meinte. Gewiss, das Herz sprengte ihm beinahe die Brust, so heftig klopfte es, und ihm war schwindlig. Aber das war auch verständlich nach all dem. Ja, er hatte sich gehen lassen, aber das war nur aus Sorge geschehen, aus ...
»Doch«, flüsterte sie. »Ich kann es sehen. Und ich höre deine Gedanken schreien. Und ich habe gehört, wie du mich vorhin genannt hast.«
Er packte sie heftig bei den Schultern und schüttelte sie. »Nein!«, rief er. »Schweig, ich bitte dich! So wird, so darf es niemals sein!«
Sie ließ sich wie eine Puppe schütteln, hörte ihm gar nicht zu, lachte und weinte zugleich in fassungsloser Freude. »Sei endlich aufrichtig!«, rief sie. »Du hast einen Ghûle besiegt, gegen ein Phantomheer gekämpft, du hast den Fluss überlebt! Was fürchtest du dich, nun diesen leichten Schritt zu vollenden? Unsere Liebe war es, die uns nicht aufgeben ließ, die uns wieder zusammenbrachte! Du kannst durch Leugnen nicht ungeschehen machen, was zwischen uns besteht!«
Da gab er auf: Was machte er sich denn immer noch vor? Und warum , an diesem Ort, nach dieser furchtbaren Tragödie, nach all dem?
In das gleichmäßige Regenrauschen hinein schrie er verzweifelt: »Also gut, ja ! Es ist wahr, ich habe dich immer geliebt, schon vom ersten Augenblick an! Ich liebe deine Jugend, deine Stimme, dein Lachen. Ich liebe dein zärtliches Gesicht, deine Fröhlichkeit, deine Anmut und deine weiche Nähe. Ich liebe jeden vergangenen Augenblick und ich freue mich seit Beginn der Reise auf jeden neuen Morgen mit dir! Deine Gabe, die du mit mir teilst, bringt dich mir so nahe, wie kein Gildenbruder es jemals sein könnte. Ich spüre stets dein warmes Bewusstsein; ich bin süchtig danach, und ja, ich kann ohne dich nicht mehr leben! Ich brauche dich, Gorwyna, wie eine Droge, denn du nimmst alles von mir, was mich quält! Ich habe mich dagegen gewehrt, aber je mehr ich kämpfte, umso näher wollte ich dir sein.« Wieder
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