Valentine
damit angefangen sollen. Es war ein Irrtum zu glauben, Ryad wäre solchen Dingen aufgeschlossen.
» Erzähl das bloß nicht Geoffrey. Der zerreißt dich in der Luft.«
»Hatte ich nicht im Sinn.«
Eine Weile sprach keiner von ihnen. Vor ein paar Tagen hätte Maurice selbst noch nicht über die Möglichkeit mystischer Hintergründe nachgedacht. Aber vor ein paar Tagen wäre ihm auch die Idee, sich in eine Vampirin zu verlieben, absurd erschienen.
»Gibt ’ s sonst etwas, was du mir beichten solltest?« Ryads Worte rissen Maurice aus seinen Überlegungen. Er sah den Vampirjäger von der Seite an. Hatte dieser etwas bemerkt?
»Nein, was sollte denn schon sein?«
»Ich mein ja nur.«
Nun lag es auf der Hand, dass Ryad von seinem Vater beauftragt worden war , ihn auszuspionieren. Vielleicht glaubte Geoffrey, dass Aliénor sich bei Maurice melden würde. Sein Handy klingelte. Maurice zog den Reißverschluss der kleinen Tasche seiner Lederjacke auf, um das Telefon herauszuholen.
»Ja?«
» Bist du das, Maurice?«, fragte Valentine leise. Sie klang bedrückt.
»Hey, schön, dass du mich anrufst.« Bloß nicht ihren Namen nennen. Einfach so tun, als ob sich eine alte Bekannte gemeldet hat. »Wie geht ’ s dir? I st bei dir alles in Ordnung?«
»Ich muss dich sehen ! « Das hörte sich dringend an und nicht so, als hätte es nur mit ihren Gefühlen zu tun.
»Gern, ich kann es kaum erwarten«, sagte er leise, den Kopf zur Scheibe gedreht und hoffte, das Autoradio lenkte Ryad ab. Sein Herz zersprang gerade vor Aufregung. »Wann und wo?«
»Vorm Domarchiv um elf. Geht das?«
» Na k lar. Ich freu mich. Bis später.«
»Bis dann.« Ihre Stimme klang ein bisschen erleichtert.
»Eine Frau?«, fragte Ryad gelassen , als Maurice das Handy wieder wegsteckte .
»Ja.«
»Du wirkst nervös. Muss ja ein heißer Feger sein.«
Maurice lachte ge quält . »Ja, kann man so sagen.«
Es war schwierig gewesen, sich aus der Teambesprechung der Vampirjäger fortzustehlen. Geoffrey hatte darauf bestanden, dass Maurice daran teilnahm. Über ihre erfolglose Suche nach Chantal und Aliénor verlor er kein Wort. Es war für ihn bedeutungslos.
Das Beben hatte selbst vor den vielen Tunneln unter der Stadt nicht H alt gemacht. Teile der Tunneldecken waren eingestürzt und hatten die Gleise mehrerer U-Bahn -L inien blockiert. Fahrgäste berichteten von gefährlich aussehenden Männern mit langen Eckzähnen, die durch die Scheiben eines stehengebliebenen Zuges geschaut hatten. Im internen Polizeifunk machte man sich über diese Schilderungen lustig und schob die Beobachtungen dem Schock zu, unter dem viele Menschen standen. Geoffrey allerdings nahm das ernst und plante eine groß angelegte Untergrundrazzia. Gemeinsam analysierten sie die Beschreibungen hinsichtlich Personen , Ort und erfolgversprechender Vorgehensweise . Dann teilte Geoffrey seine Leute in Gruppen ein.
Unter dem Vorwand, noch dringend zur Toilette zu müssen, stahl Maurice sich kurz vor der Abfahrt davon und verließ das Gebäude über einen Seitenausgang. Er hatte kein gutes Gefühl dabei, sich einfach so davonzumachen und seinen Vater zu blamieren . Andererseits würde genau dieser eine Verabredung nicht als Ausrede gelten lassen. A uf eine gemeinsame Suche mit Geoffrey und Ryad verspürte Maurice zudem nicht die geringste Lust . Für sie war es Job und Lebensinhalt, ihn brachte diese Jagd keinen Schritt weiter.
An diesem Abend waren nur wenige Menschen unterwegs. Die Angst vor einem neuerlichen Erdstoß war zu groß. Vor dem Domarchiv drehte Maurice sich einige Male suchend um die eigene Achse. Genau genommen hatte ihn dieses Gebäude noch nie interessiert , es existierte überhaupt nicht in seiner Wahrnehmung . Für Geschichte und Kirche hatte er sich weder in der Schule noch später begeistert .
W ie von Geisterhand trat Valentine aus der Dunkelheit heraus auf ihn zu , und sein Puls verfiel in einen schnelleren Takt. Eines Tages würde er sie fragen, wie sie das machte. Ehe er dazu kam, Hallo zu sagen, schlang sie ihre Arme um seinen Hals und küsste ihn, zuerst zärtlich, als erkundete sie ein neues Terrain, dann tiefer, intensiver , ausgehungert .
Mit einem dunklen Stöhnen legte er seine Arme um sie und zog sie fester an sich.
»Ich bin so froh, dich zu sehen.« Maurice streichelte ihr über die Wange , über ihre Haare, die fein wie Seide waren . Dann runzelte er die Stirn. »Du siehst müde und erschöpft aus.«
Valentine schüttelte den Kopf.
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